Das Hohe Haus
Zuhörerinnen und Zuhörer draußen zu überzeugen. »Frau Bundeskanzlerin«, setzt Wagenknecht ein, »während der fast drei Monate, in denen Sie mit der SPD um den Koalitionsvertrag gefeilscht haben, haben sich in Griechenland aus Verzweiflung über ihre soziale Situation schätzungsweise 120 Menschen das Leben genommen. Während der gleichen Zeit haben in Spanien etwa 45 000 Familien ihre Häuser oder Wohnungen durch Zwangsversteigerungen verloren. (…) In den gleichen drei Monaten hat sich das Vermögen der europäischen Millionäre und Multimillionäre wieder einmal erhöht: um fast hundert Milliarden Euro.«
Man kann es effekthascherisch finden, wenn der Bezug zwischen Suizid und Finanzpolitik so monokausal hergestellt wird, bedenklicher aber könnte es für die Rednerin sein, dass sich jene, zu deren Gunsten diese Fälle aufgerufen werden, nicht erkennen, dass sie ihre eigenen Interessen nicht identifizieren und Angst haben vor dem Rattenfängerischen, das dem Plädoyer für eine Politik der Armen immer innewohnen kann. Wieder benutzt Wagenknecht Warren Buffets Beschreibung von Derivaten als »finanziellen Massenvernichtungswaffen«. Von »Wahlbetrug« spricht sie. Statt dem von der SPD versprochenen »Das Wir entscheidet« habe man »Das Wir bezahlt« verwirklicht. Sie spricht Steinmeier direkt an. Der nickt ironisch wie einer, der gerade den Schatten von Oskar Lafontaine auf sich fühlt und weiß, was kommt: dass »die einst so stolze Sozialdemokratie« auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit sei und dass die Große Koalition weiter davon ausgehe, auch in Zukunft Banken mit Steuergeldern zu retten.
Auch das aber trifft den Nerv des Parlaments nicht so empfindlich wie Wagenknechts Weihnachtsbotschaft, wenn sie das päpstliche Plädoyer für die Armen in den Worten von Franziskus zitiert: »Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht.«
Den Platz in dieser Schnittmenge zwischen päpstlicher und linker Rhetorik macht man ihr streitig. Als sie folgert: »Die Linke zumindest nimmt die päpstliche Botschaft ernst«, da steigt sie steil auf, die Welle der Empörung von den Bänken der CDU / CSU , schwillt immer weiter an, bis in das lange Hohnlachen der Regierungskoalition einzelne Bravorufe aus der Linksfraktion brechen, während sich bei den Grünen keine Hand rührt. Das Programm der SPD gegen die Realität der SPD in der Großen Koalition aufzubieten und den Papst gegen die Christen in CDU / CSU , das ist Opposition in höchster Dosierung und erfolgreich nur, wenn die Zwischenrufe mindestens lauten: »Das stimmt doch nicht!«, »Unglaublich!«, »Ach, Gott!«, »Das ist ja nicht zu ertragen!«, »Kommen Sie zum Schluss!«, und genauso lauten sie.
In der Nachfolge erweist sich Niels Annen ( SPD ) als linientreu der Partei, nicht der Semantik und Grammatik gegenüber: Griechische Suizidfälle findet er »tragisch«, was sie fälschlich schicksalhaft erscheinen lässt, und Wagenknechts Rede ist ihm »ein Beitrag zur Debatte, der diesem Hause nicht würdig« ist – und diesem Dativ auch nicht, möchte man ergänzen, denn warum sollte die Liebe zum Land die Liebe zur deutschen Sprache nicht einschließen?
Zugleich findet sich in Annens Rede eine lauwarme Wendung, der man nun häufiger begegnen wird, nämlich der Hinweis, dass es »unterschiedliche Sichtweisen zwischen den Fraktionen dieser Bundesregierung gegeben« habe. Anders gesagt: Die Rhetorik des Durchscheinens wird künftig dafür sorgen, dass man die eigentliche Position der Partei hinter der von ihr gerade mitgetragenen erkennen kann, und dazu gehört beispielsweise auch, dass die neue Familienministerin Manuela Schwesig ( SPD ) künftig das Betreuungsgeld durchzusetzen hat, das sie im Wahlkampf noch als »grundsätzlich falsch« bezeichnet und dem sie attestiert hatte, »viel Schaden« anzurichten.
Der Rest sind Gemeinplätze (»Wir sind überzeugte Europäer«) und Demutsgesten, die umso peinlicher wirken, weil sie sich auf Trivialitäten beziehen: »Frau Bundeskanzlerin: Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie deutlich gemacht haben, dass diese Bundesregierung an dem europäischen Integrationskurs festhält.« Und gleich darauf: »Frau Bundeskanzlerin, Sie haben erwähnt, dass die Logik des Entweder-oder nicht funktionieren kann. Ich glaube, Sie haben damit recht.« Da fällt Angela Merkel
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