Das Hohe Haus
ausgetauscht, und ich schaue mich noch einmal um: Das »Parlament« – das Reden steckt schon im Wort. Wirklich war das Recht der öffentlichen Debatte eine Errungenschaft, erkämpft, mit Leiden bezahlt, mit Blut begossen. Es war das Recht, nicht die Erklärungen des Königs oder der Obrigkeit hinnehmen zu müssen, sondern auf dem Weg der offenen Auseinandersetzung zu einer Entscheidung kommen zu können. Das Parlament ist der Raum, in dem alles spricht. Der Parlamentarier ist einer, der Kommunikation herstellt und verwaltet. Der Plenarsaal ist der Ort, in dem ein Handeln durch Sprechen simuliert oder sogar vollzogen wird. Parlamente steuern, verdichten, prononcieren die politische Kommunikation. Sie waren die erste Adresse für die freie Rede. Im geschlossenen Raum nahm sie ihren Ausgang, verbreitete sich über die Gesellschaft, und selbst Zeiten der Zensur bekannten sich zu dem Grundsatz, dass die wahrheitsgemäße Berichterstattung über Parlamentsdebatten straffrei bleiben müsse.
Das Parlament ist heute der Veröffentlichung der Politik vorbehalten. Hier ist die Politik bei sich, hier existiert sie zu ihren Bedingungen – nicht wie im gedruckten Interview, das bearbeitet wurde, nicht wie im abgekarteten Spiel der Parteiinszenierung, nicht wie in der Talkshow, wo Politik massenkompatibel und »vermenschlicht« werden muss. Das Parlament ist der öffentlichste Raum und doch in manchem so undurchsichtig wie unverständlich.
Inzwischen konnten die meisten der Politiker, die sich mit dem deutsch-französischen Verhältnis befassen, den Raum verlassen, und solche mit einer Fachausrichtung im agrarischen Bereich haben ihre Plätze eingenommen. Der Bürger mag sich über leere Reihen im Parlament wundern und die »Faulheit« der Abgeordneten beklagen. Das Gegenteil ist richtig. Die Abgeordneten sind mit Verpflichtungen so befrachtet, dass sie oft bis an die Grenze der Belastbarkeit oder Aufnahmefähigkeit arbeiten, verteilt sich diese Arbeit doch auf mindestens vier Felder: Die Parlamentsarbeit schließt das Studium von manchmal tausend Seiten Akten pro Sitzung sowie die Ausschussarbeit ein. Die Wahlkreisarbeit ist ähnlich wie die Parteiarbeit Voraussetzung für die Wiederwahl. Die Öffentlichkeitsarbeit schließlich ist Mitvoraussetzung für die Anerkennung im Parlament, in der Partei und bei den Wählern.
Überschneidungen ergeben sich, wo Abgeordnete die Delegationen ihres Wahlkreises im Bundestag empfangen: also Schulklassen, Studierende, ehrenamtliche Organisationen, Ortsvereine, Firmenangehörige. Ebenso wenig zu unterschätzen ist inzwischen das soziale Netzwerken in elektronischer wie in persönlicher Form. Sie alle wollen bedient oder hofiert werden: die Partei und ihre Bündnispartner, die Koalitionäre und internen Flügel, die Vertreter von Subzentren und Verbänden. Von überall wird Einflussnahme gesucht, alles verlangt nach Symbiosen, nach Cliquen, Freundeskreisen und Komplizenschaften.
Da den Abgeordneten folglich die Zeit fehlt, über den Rand der eigenen Fachgruppe hinaus Interesse an parlamentarischen Themen und Fragen zu entwickeln, sitzen im Plenum vor allem die Ausschussmitglieder, und es ist die Aufgabe der Fraktionsvorsitzenden, auch in schwach besuchten Sitzungen die Abstimmungsmehrheit zu organisieren. Vollzählig ist das Plenum deshalb fast nur bei Gedenkstunden und Regierungserklärungen. Selbst zu namentlichen Abstimmungen oder beim Hammelsprung werden die Abgeordneten erst durch ein akustisches Signal aus ihren Büros in den Plenarsaal zitiert, werfen dort ihre markierten Abstimmungszettel in die Urnen und gehen wieder.
Inzwischen hat Renate Künast ( BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN ) das Rednerpult herabgefahren und die Stimme herauf. Sie spricht mit der Autorität der Veteranin, die sich immer dann verjüngt, wenn sie keift, und die zugleich die Abläufe zu gut kennt, um die eigene Empörung frisch halten zu können.
Die Internationale Grüne Woche beginnt. Zum Auftakt sieht man die Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner im Fernsehen öffentlich essen. Minister müssen zum Beweis der Basisnähe immer wieder mit den Requisiten ihrer Ressorts abgebildet werden. Die Verbraucherschutzministerin schützt also die Verbraucher durch das Trinken von Bier und Wein, das Verzehren von Wurst, ja, es ist überhaupt gut, wenn die Ministerin wurstaffin aussieht. Der Verteidigungsminister sitzt im Panzer. Der Umweltminister sucht mit der Grubenlampe ein Endlager im Stollen, der Verkehrsminister
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