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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Materie wie an die Instinkte der belebten band.
    Er liebte die Langsamkeit, die ihr die Schwermütigkeit einer Totenglocke verlieh. Er liebte ihren gewaltigen Kummer angesichts von Ungerechtigkeit, Not und Elend. Er liebte den selbst erwählten Leidensweg, der ihrem täglichen Leben die Erhabenheit einer Tragödie gab. Das Leben mit seiner Frau ähnelte einer Askese, war die Vorbereitung auf einen kommenden Orakelspruch, war eine gemeinsam zurückgelegte Wegstrecke im religiösen Sinne, transzendent und fordernd zugleich.
    Reyna - oder das Leben als Fastenzeremonie... Das war ein Zeichen des Kommenden, und Ende des Sommers 1994 sagte sie ihm, dass sie schwanger sei. Er kam sich verraten vor, seines Traumes beraubt, sein Ideal wurde banalisiert durch schiere Körperlichkeit und biederen Familiensinn. In Wahrheit wusste er, dass er sie verlieren würde. Zuerst körperlich, dann geistig. Reynas Berufung würde andere Formen annehmen, ihre Utopie würde in einer inneren Wandlung Fleisch werden...
    Genau das geschah, und von einem Tag auf den anderen wollte sie nicht mehr, dass er sie berührte. Auf seine Gegenwart reagierte sie nur noch zerstreut. Sie wurde zu einer Art verbotenem Tempel, in dem es nur noch eine Gottheit gab, ihr Kind. Paul hätte sich dieser Entwicklung anpassen können, aber etwas stand ihm im Wege, eine tiefgehende Lüge, die er bisher nicht wahrgenommen hatte.
    Nach der Geburt im April des folgenden Jahres gefror ihre Beziehung zu Eis. Sie beide bewegten sich um ihre Tochter wie zwei Wesen, die nichts miteinander zu tun hatten. Obwohl das Baby da war, lag etwas Todbringendes in der Luft, ein krankhaftes Vibrieren. Paul ahnte, dass er für Reyna zu einem Objekt der Ablehnung geworden war.
    Eines Nachts, als er es nicht mehr aushielt, fragte er sie: »Hast du keine Lust mehr auf mich?«
    »Nein.«
    »Wirst du auch später keine Lust mehr auf mich haben?«
    »Ja.«
    Er zögerte, dann stellte er die letzte Frage: »Hast du je Lust auf mich gehabt?«
    »Nein, niemals.«
    Für einen Bullen hatte er in dieser Sache wenig Gespür bewiesen. Ihr Treffen, ihr Zusammenleben, ihre Heirat - alles das war nur Schein und Betrug gewesen. Ein Mechanismus, dessen einziges Ziel das Kind gewesen war.
    Die Scheidung dauerte nur wenige Monate. Den Gerichtstermin erlebte er wie im Traum, hörte eine raue Stimme sprechen, die seine eigene sein musste. Er spürte, wie Glaswatte sein Gesicht verletzte, es war sein eigener Bart. Er schwebte durchs Zimmer wie ein Gespenst, das Monster einer Halluzination. Er hatte zu allem Ja gesagt, zu Unterhalt und Sorgerecht, hatte um nichts gekämpft. Es war ihm vollkommen gleichgültig, denn er sann unentwegt über die Gemeinheit dieses Komplotts nach. Er fühlte sich als Opfer einer merkwürdigen Kollektivierung: Die Marxistin Reyna hatte sich sein Sperma angeeignet und hatte, nach kommunistischer Manier, eine Befruchtung in vivo vorgenommen.
    Am komischsten war, dass es ihm nicht gelang, sie zu hassen. Im Gegenteil, noch immer bewunderte er diese Intellektuelle, der die Lust so fremd war, und er war sich sicher, dass sie nie mehr sexuelle Beziehungen haben würde. Weder mit einem Mann noch mit einer Frau. Die Vorstellung von diesem idealistischen Wesen, das nichts wollte als Leben geben, ohne dabei Vergnügen zu empfinden, ohne etwas zu teilen, machte ihn ratlos, und Paul wusste nicht, was er empfinden und was er denken sollte.
    Von diesem Augenblick an begann er abzudriften wie ein Fluss aus verschmutztem Wasser, der ein Meer aus Schlamm sucht. Er setzte seine berufliche Zukunft aufs Spiel. Er setzte keinen Fuß mehr in sein Büro in Nanterre. Er verbrachte seine Tage in den schlimmsten Vierteln, traf sich mit dem übelsten Pack, rauchte Unmengen Joints, lebte mit Drogenschmugglern und Junkies, umgab sich mit menschlichem Abschaum...
    Im Frühjahr 1998 hatte er sich bereit erklärt, sie zu treffen. Sie hieß Céline und war drei Jahre alt. Die ersten Wochenenden waren tödlich. Spazierengehen im Park, Zirkus, Zuckerwatte: Langeweile ohne Ende. Doch nach und nach entdeckte er eine Präsenz, mit der er nicht gerechnet hatte. Eine Transparenz in den Gesten des Kindes, in seinem Gesicht, seinen Äußerungen; eine weiche Strömung, launisch und sprunghaft, deren Windungen und Umwegen er folgte.
    Da war eine abknickende Hand, die Finger gespreizt, um eine Gewissheit anzuzeigen; da war eine Art, sich nach vorn zu beugen und diese Bewegung mit einer neckenden Grimasse zu begleiten; ferner das

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