Das Imperium der Woelfe
Ein Kerl, der nur Illegale angreift. Frauen, die es nicht gibt, in einer Gegend, die man kaum noch Frankreich nennen kann! «
Jean-Louis Schiffer stellte seinen Jogurt auf das Tischtuch und nahm Paul die Akte aus der Hand. »Das hat ja ganz schön gedauert, bis du zu mir gekommen bist.«
Kapitel 9
Draußen zeigte sich die Sonne, silbrig schimmernde Pfützen hauchten dem Kiesboden des weitläufigen Innenhofes Leben ein. Paul lief vor dem Haupteingang auf und ab und wartete, bis Jean-Louis Schiffer fertig war.
Es gab keine andere Lösung, das wusste er. Er hatte es immer gewusst. Chiffre konnte ihm nicht aus der Entfernung helfen, konnte ihm aus dem Altersheim heraus keine Ratschläge und auch am Telefon keine Tipps geben, wenn Paul selbst nichts mehr einfiel. Nein. Der frühere Polizist musste mit ihm gemeinsam die Türken befragen, seine Kontakte spielen lassen, in das Viertel zurückkehren, das er besser kannte als jeder andere.
Paul schauderte, als er an die Folgen seines Unternehmens dachte. Niemand wusste Bescheid, weder der Richter noch seine Vorgesetzten. Und man konnte einen Kerl wie diesen, der für seine unglaublich brutalen Methoden bekannt war, unmöglich an der langen Leine lassen. Er musste verdammt aufpassen.
Er kickte einen Kieselstein in eine der Pfützen, sein Spiegelbild verschwamm. Doch vor allem musste er sich selbst überzeugen, dass seine Idee die richtige war. Wie konnte es nur so weit kommen? Warum hatte er sich an diesem Fall festgebissen? Warum verhielt er sich seit dem ersten Mord so, als hinge von den Ermittlungen seine eigene Existenz ab?
Er dachte eine Weile nach, betrachtete sein getrübtes Bild und musste zugeben, dass es nur eine einzige und lange zurückliegende Ursache für seine Verbissenheit gab.
Alles hatte mit Reyna angefangen.
25. März 1994
Paul hatte beim Drogendezernat sein Zuhause gefunden, er kam vor Ort zu guten Ergebnissen, führte ein geregeltes Leben, bereitete die Aufnahmeprüfung für die Kommissarlaufbahn vor, und selbst das in Fetzen geschnittene Skai-Leder der Rückenlehne im väterlichen Taxi war in seinem Bewusstsein weit nach hinten gerückt. Sein Beruf als Polizist bot einen soliden Schutz gegen die Ängste von früher.
An jenem Abend brachte er einen kabylischen Drogenschmuggler in die Präfektur von Paris zurück, den er mehr als sechs Stunden in seinem Büro in Nanterre befragt hatte. Eine Routinesache, bis er am Quai des Orfèvres einen riesigen Aufruhr beobachtete, dutzendweise Lieferwagen kamen herangefahren, aus denen Trauben johlender und gestikulierender Jugendlicher sprangen. Spezialeinheiten rannten den Quai in sämtlichen Richtungen entlang, dazu heulten unablässig die Sirenen der Ambulanzen, die in den Hof des Krankenhauses Hôtel-Dieu fuhren.
Paul fragte, was los sei. Eine Demonstration gegen die Pläne der Regierung, Jugendliche schneller ins Berufsleben zu integrieren, indem der Mindestlohn für ihre Altersgruppe gesenkt wurde, war ausgeartet. An der Place des Nations sollte es über hundert verletzte Polizisten und mehrere Dutzend verletzte Demonstranten gegeben haben. Die materiellen Schäden beliefen sich auf mehrere Millionen Franc.
Paul packte seinen Verdächtigen beim Kragen und eilte hinab ins Kellergeschoss. Wenn er unten in den Zellen keinen Platz fand, müsste er seinen Gefangenen in Handschellen ins Sante-Gefängnis oder anderswohin transportieren.
Im Zellentrakt empfing ihn der übliche Lärm: Beschimpfungen, Gebrüll, Spuckgeräusche. Die Demonstranten rüttelten an den Gitterstäben, fluchten laut, worauf die Bullen mit Knüppelhieben reagierten. Es gelang ihm, den Typ unterzubringen, und er verschwand so schnell er konnte, weg von dem Radau und dem Gespucke.
Er wollte gerade verschwinden, als er sie entdeckte. Sie saß am Boden, die Arme um die Knie geschlungen, voller Abscheu vor dem Chaos, das sie umgab. Sie hatte kurzes, struppiges schwarzes Haar, kurz geschnitten wie ein Igelkopf, einen androgynen Körper, und sie umgab eine düstere Ausstrahlung à la »Joy Division«, als käme sie direkt aus den achtziger Jahren. Sie trug ein blau gemustertes Arabertuch, wie es nur noch Yassir Arafat zu tragen wagte.
Ihr Gesicht unter dem Punk-Haarschnitt war von verblüffender Wohlgeformtheit, ebenmäßig wie das einer ägyptischen Statuette und glatt, als wäre es aus weißem Marmor gehauen. Paul fühlte sich an Skulpturen erinnert, die er in einer Zeitschrift gesehen hatte. Formen von natürlicher Glattheit,
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