Das Imperium der Woelfe
Schlafmittels hatte sie ein paar Stunden schlafen können, sie war ruhig und leidenschaftslos an diesem Morgen, gleichgültig gegenüber allem, was passieren konnte. Ihre Verzweiflung mischte sich mit einer seltsamen Ruhe. Einer Art distanzierten Friedens.
»Anna, beeil dich doch!«
»Ja, ich komme!«
Sie verließ die Duschkabine und sprang auf den Lattenrost vor dem Waschbecken. Acht Uhr dreißig. Laurent, angezogen, parfümiert, trat hinter der Badezimmertür ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie beeilte sich, streifte zuerst die Unterwäsche über, dann ein schwarzes Wollkleid - ein dunkler enger Schlauch von Kenzo -, das den Eindruck stilisiert-futuristischer Trauer erweckte.
Genau das Richtige.
Während sie sich mit einer Bürste kämmte, sah sie durch den Dampf des Duschwassers hindurch im Spiegel nur ein trübes Abbild ihres Gesichts - was sie nicht störte, denn in ein paar Tagen oder Wochen würde sie sich ohnehin genau so fühlen wie dieses Spiegelbild. Sie würde nichts wiedererkennen, nichts sehen und alles, was sie umgab, würde ihr fremd werden. Sie würde sich nicht mehr mit ihrem Schwachsinn beschäftigen und zulassen, dass die letzten Parzellen ihres Verstandes zerstört wurden.
»Anna?«
»Ja,ja.«
Sie lächelte über Laurents Eile. Wollte er nicht zu spät ins Büro kommen oder einfach nur seine verrückte Frau schneller loswerden?
Der Nebel vor dem Spiegel verschwand, sie sah ihr rotes und vom heißen Wasser angeschwollenes Gesicht und nahm innerlich Abschied von Anna Heymes, von Clothilde, vom Schokoladengeschäft, von Mathilde Wilcrau, der Nervenärztin mit den mohnroten Lippen...
Sie sah sich schon im Institut Henri Becquerel, in einem weißen, abgeschlossenen Zimmer, ohne jeden Kontakt zur Wirklichkeit. Das war es, was ihr fehlte! Sie sehnte sich förmlich danach, sich in fremde Hände zu begeben, sich Krankenschwestern zu überlassen, und selbst mit der Idee einer Biopsie begann sie sich anzufreunden. Was war schon gegen eine Sonde einzuwenden, die langsam in ihr Gehirn dringen und den Ursprung ihrer Krankheit finden würde?
In Wahrheit wollte sie gar nicht gesund werden. Sie wollte nur noch verschwinden, sich in Luft auflösen, den anderen nicht mehr zur Last fallen...
Anna kämmte sich noch immer, als sie plötzlich unter ihrem Pony drei vertikale Narben entdeckte. Sie wollte es nicht glauben. Mit der linken Hand wischte sie Teile des Wasserdampfs weg und trat näher an den Spiegel heran. Ihr stockte der Atem: Winzige, doch deutlich sichtbare Spuren zogen sich über ihre Stirn.
Die Narben einer plastischen Operation, dieselben Narben, die sie heute Nacht gesucht hatte.
Sie biss sich in die Faust, um einen Schrei zu unterdrücken, und sackte in die Knie. Sie fühlte einen Lavastrom durch ihren Leib schießen.
»Anna, was machst du bloß?«
Laurents Rufe schienen aus einer anderen Welt zu kommen.
Von heftigem Zittern gepackt, stand Anna auf und sah sich erneut im Spiegel an. Sie wand den Kopf, bog mit einem Finger ihr rechtes Ohr nach unten und entdeckte eine weiße Linie auf dem oberen Rand der Ohrmuschel. Hinter dem anderen Ohr war genau dieselbe Narbe zu sehen.
Sie trat zurück und versuchte - beide Hände stützten sich auf den Waschbeckenrand - ihr Zittern zu beherrschen. Dann hob sie das Kinn und suchte nach weiteren Spuren, nach einer feinen Linie, die auf Fettabsaugen hinwies. Sie fand sie ohne Mühe.
Schwindel ergriff sie. Freier Fall in ihrem Bauch. Sie senkte den Kopf und schob die Haare beiseite, um das letzte Zeichen zu finden. Eine S-förmige Naht, der Hinweis auf eine Knochenentnahme. Eine rosafarbene Schlange auf der Kopfhaut, wie ein intimes, scheußliches Reptil.
Sie klammerte sich fester an das Waschbecken, um nicht umzufallen, während die Wahrheit sich in ihrem Bewusstsein ausbreitete. Es gab nur einen Menschen, der sein Gesicht verändert hatte, und das war sie selbst.
Kapitel 21
»Anna, antworte doch, verdammt noch mal!«
Laurents Stimme drang durch den Dampf, der sich mit der durch das geöffnete Badezimmerfenster hereindringenden Luft vermischte. Seine Rufe breiteten sich im Hof des Gebäudes aus und verfolgten Anna bis zu dem Sims, den sie erreicht hatte.
»Anna, mach auf!«
Sie schob sich seitwärts weiter, den Rücken an die Mauer gepresst, und hielt, während sie auf dem Vorsprung kauerte, ihr Gleichgewicht. Die Kälte des Steins klebte ihr an den Schulterblättern, Regen fiel ihr ins Gesicht, und der Wind fegte ihr die
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