Das Implantat: Roman (German Edition)
Gefangennahme und die darauffolgende Flucht verkündet, gibt es für mich keinen Ausweg mehr. Keine Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen. Das Vergehen ist einfach zu gewaltig – um auf Einzelheiten einzugehen, bleibt da kein Raum.
Vaughn hält vor einem Grab inne. Verschränkt die Hände hinter dem Rücken und beugt sich leicht nach vorne. Der Grabstein ist aus weißem Marmor.
Ich ducke mich hinter einen Baum. Unter meinen Fingern kann ich jeden noch so kleinen Riss in der Rinde spüren. Jeder meiner Sinne ist hellwach, und sie alle haben nur ein Ziel: den armen Mann zu töten, der dort am Grab steht.
Etwas weiter hinten läuft einer der Männer in den grauen Anzügen vorbei. Doch er bleibt auf Abstand und läuft weiter, ohne sich Vaughn zu nähern.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ich in ungefähr sechzig Sekunden meine harte Faust in Vaughns weichen Wanst rammen werde, um ihm kurz darauf den Kehlkopf zu zertrümmern. Vom mathematischen Standpunkt aus gesehen gibt es unendlich viele Möglichkeiten, ihm mit bloßen Händen den Garaus zu machen. Nahkampf-Algorithmen laufen an meinen Augen vorbei und zeigen mir genau an, wo ich am besten stehen sollte. Wie ich mich am besten drehe. Welchen Wirbel es zu zertrümmern gilt und wie viel Kraft dazu nötig ist. Druckpunkte, die günstigsten Winkel zum Knochenbrechen.
Ganz und gar drauf.
Eigentlich
möchte
ich ihn auch für seine Taten bestrafen. Ich möchte ihm seine naturbelassenen Augen herausreißen und ihm seine naturbelassenen Arme und Beine brechen. Seine naturbelassenen Rippen eintreten, damit sie seine naturbelassenen Organe durchstechen. Bis Vaughn eine neue Definition dafür erfand, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, waren Lyle, Samantha und ich keine Amps. Bis dahin waren auch wir Menschen.
Eines Tages werden wir wieder Menschen sein.
Die geisterhaften Bewegungen, die ich ausführen werde, jucken mir bereits in den Fingern. Jede Kombination aus Ansatz und Ergebnis wird auf ihre physikalischen Voraussetzungen, ihre Gleichungen und körperlichen Folgen reduziert. Eine ganze Armee aus zehn Zentimeter hohen blauen Lichtgestalten tummelt sich auf dem Rasen, sichtbar allein für meine vernetzten Blicke. Wie winzige Krieger treten die von meinen Implantaten erzeugten Projektionen aus dem Schatten hervor und probieren für mich verschiedene Kampfszenarien aus.
Einer der kleinen Golems biegt die Finger seines unwirklichen Gegners nach hinten, bis sie brechen. Schaudernd hoffe ich, dass dieses Szenario nicht Wirklichkeit wird. Selbst als virtuelles Lichtspiel sieht es verdammt schmerzhaft aus.
Bist das wirklich du, Owen?
Bin ich ein Mörder? Ich weiß es nicht. Eigentlich funktioniert mein Körper ja sowieso zum größten Teil ohne mein bewusstes Zutun: Er hält von selbst das Gleichgewicht, träumt vor sich hin und regeneriert sich, atmet, verdaut Nahrung und macht tausend andere kleine Dinge. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Kontrolle ich noch über ihn habe. Hatte ich je besonders viel Kontrolle über ihn?
Ich schaue nach, ob ich irgendwo in der Umgebung welche von den Anzugträgern entdecke.
Niemand zu sehen. Vaughn ist allein. Er kniet vor dem Grabstein und wendet mir den Rücken zu, bietet die perfekte Angriffsfläche. Während ich mich langsam aufrichte, verblassen die kämpfenden Phantome um mich herum.
Jetzt schlage ich zu.
Ich renne so schnell, dass Bäume und Hügel zu einer grauen Masse verschwimmen. Wie von allein folgen meine Füße den blau leuchtenden Fußabdrücken, die aus dem feuchten Gras aufsteigen. Schon hole ich zum ersten Schlag aus.
Ich bin nur noch zwei Meter entfernt, als mein Blick auf den Grabstein fällt. Sofort macht sich mein Netzhautimplantat über die Informationen her. Der Grabstein hat die Form eines liegenden Engels, der mit gefalteten Flügeln selig vor sich hin schlummert. Darunter stehen drei Worte, die eine Art Explosion in meinem Kopf auslösen:
Emma Camille Vaughn.
Diese ersten zwei Buchstaben:
EM
.
Ich kann gerade noch anhalten und komme unmittelbar hinter Vaughn zum Stehen. Mit allerletzter Kraft fange ich meinen eigenen Arm ab und falle dabei fast vornüber. Plötzlich ist es mucksmäuschenstill auf dem Friedhof. Nur das leise Rascheln der Blätter über uns und mein keuchender Atem sind noch zu hören.
Vaughn verharrt auf den Knien und dreht sich nicht um.
»Wenn du hier bist, um mich zu töten, nur zu«, sagt er.
Ich bin immer noch halb in Angriffsposition, doch jetzt richte ich mich auf.
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