Das Implantat: Roman (German Edition)
schmiedeeisernen Dachverzierung fest und strecke die andere zu dem Mädchen vor mir aus.
»Nicht«, sage ich. »Bitte tu’s nicht.«
Meine Finger zittern. Die Schwingungen der Angst und der Panik, die in der Luft liegen, scheinen sich auf sie zu übertragen. Am Ende des Daches wartet etwas auf mich, das bereits vor Jahren außer Kontrolle geraten ist. Nur sollte ich nicht
etwas
sagen. Sollte sie unter gar keinen Umständen als Sache bezeichnen.
Jemand,
meine ich natürlich.
Schuld an allem ist nur diese verdammte Technik. Man kann ihr nicht entrinnen. Wann immer man mit Menschen zu tun hat, kommt man automatisch damit in Berührung. Ausgeklügelte kleine Apparate. Listige Strategien. Wir sind die geborenen Werkzeugmacher; und wenn man auch an sonst nichts glaubt, sollte man sich das besser eingestehen. Es liegt einfach in unserer Natur.
Unsere Werkzeuge machen uns stark.
Und genau diese Werkzeuge haben dafür gesorgt, dass dieses Mädchen hier am Rand des Daches steht. Als ich gehört habe, um wen es sich handelt, habe ich alle Warnungen in den Wind geschlagen und bin sofort zu ihr hinaufgeklettert. Was ich ihr angetan habe, kann ich auch damit nicht wiedergutmachen, aber ich kann’s ja wenigstens versuchen.
Samantha ist erst fünfzehn. Der Wind weht durch ihr braunes Haar und treibt die Tränen über ihr ausdrucksloses Gesicht. Sie steht unmittelbar an der Kante des bulligen, in der industriellen Blütezeit Pittsburghs gebauten Schulgebäudes, sechs Stockwerke über dem Boden. Ein paar Sonnenstrahlen brechen durch den grauen Nachmittagshimmel, doch der Regen hat nicht aufgehört und bringt die dunklen Schindeln um uns herum zum Glänzen.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie wirklich springen will. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hat.
Werkzeuge baut man doch eigentlich, um Probleme zu lösen, oder? Aber – und darüber habe ich viel nachgedacht – es sind vielmehr unsere Grenzen, die uns ausmachen. Dicke rote Linien, die man nicht überschreiten darf: die Grenzen des Menschenmöglichen. In letzter Zeit sind diese Grenzen allerdings so oft überschritten worden, dass sie kaum noch zu erkennen sind.
Deshalb verlieren wir alle langsam die Orientierung.
Vor ziemlich genau acht Jahren hat ein kleines Mädchen namens Samantha eine Woche lang in der Schule gefehlt. Auf den Fotos, die immer am Anfang der Fernsehberichte gezeigt wurden, konnte man sehen, dass Sam ein bisschen schielte. Sie trug eine lilafarbene Brille und lächelte viel. Niedlich war sie. Eine niedliche, sabbernde Drittklässlerin mit Dauergrinsen im Gesicht und ewig schmutzigen Fingern, mit denen sie sich gerne Bauklötze in den Mund steckte.
Deshalb waren viele Eltern der anderen Kinder erschrocken, als Samantha eine Woche später wieder in die Schule kam. Oder vielleicht sollte ich besser »entsetzt« sagen. So entsetzt, dass einige nicht bereit waren, sich mit der neuen Situation abzufinden.
Als sie in ihre Klasse zurückkehrte, schielte Sam nämlich nicht mehr. Auch steckte sie sich keine Bauklötze mehr in den Mund. Tatsächlich machte Samantha Blex ziemlich schnell deutlich, dass es ab sofort eine neue Klassenbeste gab. Bei ein paar hastig durchgeführten Tests stellte sich heraus, dass ihr Intelligenzquotient höher war als bei neunundneunzig Prozent der restlichen Probanden, die im Stadtgebiet solche Tests absolviert hatten.
In der einen Woche, in der es weg gewesen war, hatte das Mädchen eine Menge erlebt.
In einem Interview sagte Samanthas Klassenlehrer mit zittriger Stimme, er sei sich nicht sicher, ob die kleine Sam nach ihrem Besuch beim Arzt und dem Einsetzen des Neuronalen Autofokus wirklich noch dieselbe sei. Das Zitat ging bestimmt hundertmal über den Äther. Später tat mir leid, was ich da zu den Reportern gesagt hatte. Ich hätte es besser wissen müssen.
So fing alles an. Die süße kleine Sam kam zurück in meine Klasse, und als sie mich ansah, war da ein neuartiges Funkeln in ihren Augen – sie strahlte plötzlich eine ganz andere Art von Energie aus.
Wo kam dieses Funkeln her? Ganz einfach. Ein Stück leitfähiges Metall von der Größe einer Aspirin-Tablette, ein sogenannter
Amp,
war dem Mädchen in den präfrontalen Hirnlappen eingesetzt worden. Ein metallener Mini-Tintenfisch, durch den in präzise getimten Abständen elektrische Reize pulsierten, welche Sams Hirnwellenfrequenz behutsam in Richtung Zustand Beta eins verschoben. Volle Konzentration, vierundzwanzig Stunden am Tag. Der Eingriff
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