Das Implantat: Roman (German Edition)
antworten noch weniger. Direktor Stratton mustert mich kurz und sagt mir dann, ich solle den Rest des Tages freinehmen.
Also laufe ich zügig und ziellos durch die Innenstadt. Mein vager Plan lautet, irgendwann bei der Praxis meines Vaters zu landen. Der Regen hat nachgelassen, und auf den glänzenden Straßen suche ich verzweifelt nach etwas, woran ich mich festhalten kann. Nach irgendeinem Anblick oder Gedanken, der halbwegs Sinn ergibt. Doch ich finde nichts.
Die Stadt Pittsburgh steckt mitten in einer tiefgreifenden politischen Umwälzung. Wie der Rest der Nation auch. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs kam für etwa eine halbe Million Menschen wie ein Schlag ins Gesicht. Jeder, der einen Amp im Kopf trägt, ist heute morgen aufgestanden und hat sich gefragt, was die neue Zeit wohl bringen mag, die da gerade angebrochen ist.
Ich glaube, ich weiß ungefähr, worum es bei der Sache geht.
Gesetzlich erlaubte Diskriminierung. Ungefähr hunderttausend Amp-tragende Kids werden nach dem Urteil von ihren Lehrern nach Hause geschickt. Knapp eine halbe Million Amp-tragende Erwachsene fragen sich, ob sie immer noch einen Job haben. Und ein paar hundert Millionen normale Menschen begrüßen die Entscheidung oder feiern sie sogar.
Sirenen heulen auf, und eine Kolonne von dunklen Geländewagen rast mit wackelnden Antennen die mit Schlaglöchern übersäte Straße entlang. Kurz darauf kommt mir ein dicker Mann mittleren Alters entgegen, der barfuß mit seinem künstlichen Bein aus Plastik und Metall an mir vorbeirennt. Erst setzt sein echter Fuß auf dem Bürgersteig auf, dann sein unechter.
Klatsch, klirr. Klatsch, klirr. Klatsch, klirr.
Ich bleibe stehen und sehe dem Mann hinterher, bis er verschwunden ist. Der Schock, den ich bei der Sache heute Morgen abgekriegt habe, scheint allmählich etwas zu verblassen. Dafür spüre ich ein schmerzhaftes Gemisch aus Wut und Trauer, das mir immer wieder sauer in die Kehle steigt.
Irgendwo in der Nähe erschallen die skandierenden Rufe einer Demo.
»Pure Pride!«, rufen die Leute. »Stolz, ein reiner Mensch zu sein!«
Der Pure Human Citizen’s Council feiert das Urteil. Die Organisation hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre gebildet – wie eine natürliche Abwehrreaktion auf einen Amp, den der Körper nicht verträgt. Erst war der PHCC nur ein gemeinnütziger Verein mit religiösem Hintergrund. »Der Körper ist ein Heiligtum, pfuscht nicht an der Schöpfung herum« – so in dem Stil. Dann fand der Klub jedoch plötzlich im ganzen Land begeisterte Unterstützer. Familien aus der Mittelschicht, die Angst um die Zukunftschancen ihrer Kinder hatten. Gewerkschaften, die die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder bedroht sahen. Und Politiker, die eine publicityträchtige Kampagne witterten, auf die sie aufspringen konnten.
»Pure Pride! Pure Pride!«
Ich folge den Rufen bis zur Cathedral of Learning, dem hochhausartigen Hauptgebäude der Universität von Pittsburgh, die aus dem grünen Campusgelände aufragt wie ein neogotisches Märchenschloss. Vor dem Eingang steht eine hastig errichtete Bühne mit einem massiv wirkenden Podium in der Mitte. Praktisch jedes Gesicht, in das ich sehe, trägt ein aufgekratztes, siegestrunkenes Lächeln. Kaum eine Meile von hier spritzt jemand gerade den Rasen einer Highschool ab, um das darüber verteilte Blut zu entfernen.
Überall, wohin ich schaue, sehe ich blanke Schläfen.
Ich laufe in den Park hinüber, verstecke mich halb hinter einem Baum und sehe ein Mädchen mit kurzem Rock und einer Sonnenbrille auf dem Kopf, deren Bügel extra so geschwungen sind, dass jeder ihre glatten, buchsenlosen Schläfen erkennen kann. Frisuren, Sonnenbrillen, Kopfbedeckungen – alle so designt, dass ein wichtiges Stück Haut garantiert sichtbar bleibt. Zum Beweis, dass man noch ein Mensch ist.
Ich kann mich nicht genau erinnern, wann es mit dieser Mode losging. Vor einem Jahr? Vor zwei? Vielleicht, als die Leute anfingen, Läden von Amp-Trägern zu boykottieren. Oder als der erste Behindertensportler einen olympischen Rekord brach. Es war ein allmählicher Erosionsprozess. Die Anlässe waren nie so bedeutend, dass man sich wirklich darüber aufregen musste. Außerdem geht mich das alles ja eigentlich sowieso nichts an. Schließlich habe ich keinen Amp wie Samantha.
Das neuronale Implantat in meinem Kopf ist bloß dazu da, Anfälle zu verhindern. Das ist alles. Harmloser geht’s nicht. Keine amplifizierte Intelligenz, keine künstlichen Erinnerungen,
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