Das Inferno
dessen Alter sich nur schwer erraten ließ, wirkte durchtrainiert und hatte keinerlei Bauchansatz. Er sah so unauffällig aus, dass man auf der Straße an ihm vorbeigehen konnte, ohne sich später an ihn zu erinnern, ein Umstand, der ihm in seinem Beruf schon oft von großem Nutzen gewesen war.
Lord Barford geleitete Tweed und Paula in einen geräumigen Salon, der luxuriös, aber geschmackvoll eingerichtet war. Auf lederbezogenen Sofas und Sesseln saßen einige Gäste, die an Drinks nippten und sich jetzt interessiert den Neuankömmlingen zuwandten.
»Das ist Mr. Tweed, den ich Ihnen ja bereits angekündigt habe«, sagte Lord Barford, »und die bezaubernde junge Dame, die er zu meiner großen Freude mitgebracht hat, ist seine Assistentin Miss Paula Grey. Und das hier ist Lance, mein ältester Sohn.«
Lance, ein etwa vierzigjähriger Mann in Reitkleidung, erhob sich aufreizend langsam aus seinem Sessel. Sein glatt rasiertes, arrogant dreinblickendes Gesicht wirkte bei weitem nicht so vornehm wie das seines Vaters. Als Paula ihm lächelnd die Hand hinstreckte, führte er sie an seine Lippen und gab ihr einen feuchten Handkuss, den Paula als extrem widerwärtig empfand.
»Solche Schönheiten wie Sie verirren sich leider nicht allzu oft in unsere Gegend. Ich schlage deshalb vor, dass Sie für ein paar Tage hierbleiben, meine Liebe. Wir haben jede Menge Gästezimmer.«
»Danke für die Einladung, aber wir müssen noch heute Abend nach London zurück.«
»Und das hier ist mein anderer Sohn Aubrey«, sagte Barford rasch, während er Lance von der Seite einen tadelnden Blick zuwarf. »Er ist zwar jünger, dafür aber etwas höflicher als sein Bruder.«
Aubrey, der bereits aufgestanden war, lächelte Paula freundlich und zuvorkommend an und begrüßte sie mit einem festen, aber nicht zu kräftigen Händedruck. Sein Anzug ließ darauf schließen, dass er ein Geschäftsmann war.
»Und das ist Lisa Trent«, fuhr Lord Barford fort. »Sie ist momentan bei uns zu Gast und ist ebenso gescheit wie schön.«
Was Lisa Trents Aussehen anbelangte, hatte Barford nicht übertrieben, fand Tweed, als er nach Paula der schlanken, rothaarigen Frau die Hand drückte. Lisa musterte Tweed mit einem etwas schiefen Lächeln und sah ihm dabei tief in die Augen. Ihr Gesicht wirkte intelligent, und ihre Bewegungen waren geschmeidig und graziös.
»Ich freue mich schon lange darauf, Sie kennen zu lernen, Mr. Tweed«, sagte sie, während sie ihn aus ihren blauen Augen unverwandt ansah. »Bitte, setzen Sie sich doch neben mich auf die Couch.«
»Mit dem allergrößten Vergnügen…«
Nachdem Barford ihnen die weiteren Gäste vorgestellt hatte, von denen die weiblichen Paula mit teils bewundernden, teils an Eifersucht grenzenden Blicken bedachten, setzte sich Tweed neben Lisa. Der Butler brachte ihnen etwas zu trinken, und die beiden begannen angeregt miteinander zu plaudern. Paula versuchte inzwischen, sich so weit wie möglich von Lance entfernt zu halten, aber schließlich kam er direkt auf sie zu und führte sie zu einer noch unbesetzten Couch.
»Ich habe gehört, dass Sie einen aufregenden Job haben«, sagte Lisa mit leiser, angenehm klingender Stimme zu Tweed.
»Sie sollen der stellvertretende Direktor einer ganz speziellen Versicherung sein, die reiche Leute gegen das Risiko einer Entführung versichert. Soviel ich weiß, führen Sie auch die Lösegeldverhandlungen, falls einer Ihrer Klienten doch einmal gekidnappt werden sollte.«
»So was in der Art«, antwortete Tweed. In Wirklichkeit war die Versicherungsgesellschaft, von der Barford seinen Gästen erzählt hatte, nur eine Tarnfirma für den SIS. »Und was machen Sie?«, fragte er Lisa. »Täusche ich mich, oder habe ich in Ihrer Stimme einen ganz leichten Akzent entdeckt?«
»Sie haben gute Ohren. Mein Vater war Deutscher, meine Mutter Engländerin.«
»Dann habe Sie beruflich bestimmt mit Sprachen zu tun?«, fragte Tweed schmunzelnd.
»Nicht ganz«, antwortete Lisa nach einem kurzen Zögern.
»Zwar spreche ich fließend Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Schwedisch, was mir in meinem Beruf eine große Hilfe ist, aber eigentlich bin ich eine Vertrauensperson.
Ich weiß, das klingt ein wenig albern«, fügte sie entschuldigend hinzu, »aber es ist nun mal so. Menschen kommen zu mir, wenn sie ein schwieriges Problem haben, mit dem sie allein nicht mehr fertig werden.« Sie dämpfte die Stimme. »Im Augenblick allerdings habe ich selbst so ein Problem, über
Weitere Kostenlose Bücher