Das Inferno
auf dem Weg nach Alfriston waren, fuhr Lisa Trent in ihrem Cabriolet nach London zurück.
Sie hatte das Verdeck geschlossen und die Heizung voll aufgedreht, weil die Temperatur in dieser mondhellen Märznacht knapp unter dem Gefrierpunkt lag.
Nachdem sie die A27 verlassen hatte, fuhr sie auf einer kurvigen, schmalen Landstraße durch eine herrliche Hügellandschaft. Erst als sie den Nordrand der Downs erreicht hatte, konnte sie ordentlich Gas geben. Zu dieser späten Stunde war die zwischen ausgedehnten, im Mondlicht vom Frost glitzernden Feldern schnurgerade verlaufende Straße völlig leer, sodass Lisa gut vorankam. Sie war mit dem Verlauf des Abends sehr zufrieden. Es ist noch nicht ganz Ende März, dachte sie, und ich habe mich schon mit Tweed in Verbindung gesetzt.
Als sie die Stadtgrenze von London erreichte, drosselte Lisa das Tempo, weil sie keine Lust hatte, vo n der Polizei aufgehalten zu werden. Wie üblich stellte sie das Cabrio in einer kleinen Seitenstraße nahe ihrer Wohnung so ab, dass sie im Notfall rasch die Flucht ergreifen konnte.
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung blieb sie mehrmals stehen und schaute sich um, konnte aber auf den verlassenen Straßen keine Menschenseele entdecken. Hinter den Gardinen ihrer Wohnung im ersten Stock brannte noch Licht. Ihre Schwester Helga hatte es offenbar versäumt, die schweren, lichtdichten Vorhänge zuzuziehen, wie sie selbst es jeden Abend tat. Diese Vorsichtsmaßnahme war Helga offenbar zu lästig gewesen.
Während Lisa ihre Schlüssel aus der Tasche kramte, sah sie noch einmal nach oben und runzelte die Stirn. An einem der erleuchteten Fenster war das Glas zerbrochen. Hatten Vandalen die Scheibe eingeworfen? Zum Glück war ein Einbruch praktisch ausgeschlossen. Tiger, ihr deutscher Schäferhund, hätte nämlich jeden Eindringling sofort in der Luft zerrissen.
Nachdem Lisa das Haus betreten hatte, sperrte sie die Tür hinter sich zu und legte leise die Kette vor. Irgendetwas war ihr nicht geheuer. Ohne das Licht anzuknipsen, schlich sie die Treppe hinauf, wobei sie vorsichtig die zwei Stufen mit den knarzenden Brettern vermied. Sie verspürte ein innerliches Zittern, das sie aber zum Teil ihrer Müdigkeit zuschrieb.
Als Lisa ganz leise und verstohlen die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, kam sie sich beinahe lächerlich vor. Drinnen rief sie leise den Namen ihrer Schwester, weil sie Helga nicht erschrecken wollte. Sie erhielt keine Antwort. Die Stille in der Wohnung kam ihr auf einmal unheilvoll und beängstigend vor.
Normalerweise hätte Tiger sie längst gehört und wäre freudig bellend zur Tür gelaufen.
Vorsichtig schlich Lisa zur halb offen stehenden Wohnzimmertür. Leise drückte sie sie nach innen – und erstarrte vor Schreck. Vor dem Fenster lag ihre Schwester mit seltsam verdrehten Beinen auf dem Rücken. Auf ihrer weißen Bluse prangte gleich über dem Herzen ein großer, dunkelroter Blutfleck. Neben ihr lag Tiger ebenso reglos wie sie. In seinem Kopf klaffte dort, wo sein rechtes Auge hätte sein sollen, ein großes, blutiges Loch.
»Nein!«, flüsterte Lisa. »Lieber Gott, bitte lass das nicht wahr sein.«
Sie betrachtete die zerfetzte Gardine, an der Tiger offenbar noch im Todeskampf mit seinen Krallen gekratzt hatte. Dahinter befanden sich zwei Löcher in der Fensterscheibe. Auf einmal spürte Lisa einen Kloß im Hals, und dann wurde ihr so schlecht, dass sie sich setzen musste.
»Reiß dich zusammen«, sagte sie zu sich selbst. Während die eine Hälfte ihres Gehirns vor Entsetzen gelähmt war, versuchte die andere herauszufinden, was passiert war. Den Einschusslöchern in der Scheibe nach zu schließen, musste der Mörder vom Haus gegenüber aus geschossen haben. Vermutlich hatte er Helga hinter der Gardine für ihre Schwester Lisa gehalten, die in etwa so groß war wie sie und auch das gleiche, leuchtend rote Haar hatte. Als Tiger sich danach auf das Fenster gestürzt hatte, war auch er erschossen worden. Lisa ließ sich auf den Boden gleiten und krabbelte auf allen vieren hinüber zu ihrer Schwester, um ihr den Puls zu fühlen. Nichts. Helga war ebenso tot wie Tiger, dem die Zunge aus dem halb geöffneten Maul hing. Lisa kroch weiter bis zu einer Stelle des Zimmers, die nicht durch das Fenster eingesehen werden konnte. Hier stand sie auf und lehnte sich schwer atmend an die Wand.
»Tu was!«, feuerte sie sich selbst an.
Genau das hätte ihr Auftraggeber von ihr erwartet: dass sie in einer Situation wie dieser nicht zusammenbrach,
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