Das irische Erbe
schmaleren Straße ohne Markierung weiter. Der Straßenbelag war uneben, einmal musste Tim einem größeren Loch ausweichen. Ganz kurz glaubte sie, ein Tier auf dem Feld gesehen zu haben. Vielleicht eine Katze oder ein Kaninchen. Hinter einem etwas zurückliegenden Hof bog Tim rechts ab. Er fuhr langsam, denn der Weg war noch schlechter als der andere. Nach dreihundert Metern bog er wieder rechts ab und sie passierten eine Einfahrt, die von zwei alten Laternen gesäumt wurde. Aber die Lampen brannten nicht, sie konnte kaum etwas sehen. Nur schemenhaft zeichneten sich links niedrige Gebäude ab. Rechts lag das Wohnhaus, das nur von einer kleinen Lampe am Fenster erhellt wurde.
»Die Birnen in den Laternen sind kürzlich kaputtgegangen. Beide auf einmal«, erklärte Tim. »Deshalb sieht man jetzt auch nichts. Ich muss sie unbedingt ersetzen. So was hat sonst immer Nina gemacht.«
Nina war handwerklich geschickt und konnte alles. Tapezieren, Löcher bohren, eine Kreissäge bedienen, während Tim nur unbeholfen danebenstand und zusah. Und sie bewunderte. Vielleicht machte Nina deshalb alles, überlegte sie flüchtig.
Sie stiegen aus und sie wartete, bis er ihre Tasche aus dem Kofferraum hob. Es knirschte unter seinen Füßen. Sicher brauner Schotter, mit dem die Pfützen aufgefüllt wurden. Sie ging auf Zehenspitzen hinter ihm her und hoffte, dass sie sich ihre Schuhe nicht verdarb.
Beim Näherkommen sah sie den hellen Putz des Hauses und die mit Blumenkästen geschmückten Fenster. Und eine knallrot gestrichene Haustür. Tim schloss auf und machte das Licht an. Einen Moment blendete sie die Helligkeit, dann blickte sie sich neugierig um.
»Komm, lass uns noch einen Tee trinken«, Tim stellte die Tasche ab und öffnete rechts eine Tür. Die Küche. Als Erstes fiel ihr die niedrige Decke auf. Dann der dunkelblaue Kachelofen, hinter dessen verrußten Fenstern es noch glühte. Die Küche selbst bestand aus alten Holzmöbeln, die eigentlich nicht zueinanderpassten, dem Raum aber eine ganz eigene Note verliehen. Über Eck standen zwei Bänke, davor ein quadratischer Tisch. Die Tapete war hell und noch ganz neu. Auch die Decke wirkte frisch gestrichen. Aber auf den Schränken stapelte sich das schmutzige Geschirr von mehreren Tagen. Drei verknotete Säcke mit Müll standen auf dem Boden, ein Stapel Zeitschriften lag daneben. Der Obstkorb auf dem Tisch enthielt neben grünen Äpfeln verschimmelte Trauben und schwarz gewordene Bananen.
Trotz der Unordnung und dem Schmutz fühlte sie sich von dem Raum angesprochen. Vielleicht war es auch nur die Wärme, die der Ofen verströmte. Sie konnte sich vorstellen, an kalten Wintertagen am Fenster zu sitzen und heißen Kakao zu trinken.
Sie zog ihren Mantel aus und setzte sich, während Tim aus einer Thermoskanne zwei Tassen befüllte.
»Hier, ich hoffe, er ist noch warm. Möchtest du einen Schluck Rum dazu?«
»Gute Idee.«
Er gab einen großen Schluck Rum in beide Tassen und setzte sich dann neben sie. Die Holzplanken des Bodens waren ebenfalls verschmutzt. Leere Weinflaschen standen in einer Reihe, als warteten sie auf ein Kommando. Ninas Rotwein, den sie wie Wasser trinken konnte, ohne dass man ihr etwas anmerkte.
Claire nippte an ihrer Tasse und spürte sofort die wohlige Wirkung des Alkohols.
»Tim, wann ist Nina gegangen?«
»Letzte Woche.«
Letzte Woche also. Deshalb sah die Küche so unordentlich aus.
»Lass uns morgen davon sprechen, ja?«, bat er.
»Natürlich. Wir haben Zeit genug. Dann will ich auch deine Pferde sehen.«
Sein Gesicht erhellte sich.
»Du kommst genau richtig. Bei Cora geht es bald los.«
Cora. Sicher ein Pferd.
Oben auf den Küchenschränken standen Glasbehälter mit getrockneten Gewürzen.
»Cora habe ich erst seit drei Wochen«, erklärte er. »Der Kauf war ein echter Glücksfall. Sie ist von einem bekannten Hengst gedeckt worden, und ich habe sie nur deshalb bekommen, weil die Besitzer sich scheiden lassen. Sie haben alle ihre Pferde verkauft und sie mir angeboten. Aber ich war nur an Cora interessiert. Sie wird dir gefallen.«
Dabei hatte Claire überhaupt keine Ahnung von Pferden. Und ob Tim wirklichen Pferdeverstand besaß, bezweifelte sie. Er war immer schon sehr schnell zu begeistern gewesen. Alle Pferde waren schön und brav und toll zu reiten.
»Eines der Pferde, ein Wallach, ist ein echter Blender. Man muss schon einiges von Pferden verstehen, um ihn richtig einschätzen zu können. Das habe ich ihnen aber nicht gesagt. Ich
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