Das irische Erbe
sogar drei kleine Würstchen, die in Alufolie eingeschlagen waren, damit sie warm blieben. Aber auch Toastbrot, Schinken und Honig. Sie konnte nicht länger auf Tim warten und begann zu essen.
Der Blick aus dem Fenster überraschte sie. Auf dem Weg lag kein brauner Schotter, sondern heller Kies, und es gab weder Morast noch Pfützen. Dem Haus gegenüber lagen die Stallungen, links daneben eine kleine Wiese, eingezäunt mit einem weißen Lattenzaun. Auf einem der Pfosten saß eine schwarze Katze und döste in der Sonne. Claire musste sich unbedingt alles ansehen. Soviel sie wusste, gehörten zum Hof noch einige Weiden und eine Scheune. Und natürlich die Pferde, die Tim übernommen hatte, obwohl es mittlerweile sicher mehr geworden waren.
Sie nahm einen Schluck Kaffee. Aber das Haus war nicht so groß, wie sie erwartet hätte. Wenn sie sich richtig erinnerte, sagte Tim damals, als er sie von Irland aus anrief, das Haus habe über dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Das traf aber auf keinen Fall zu.
Sie sah ihren Bruder aus dem Stall kommen. Sein schlaksiger Gang, den ihre Mutter ihm immer vorgehalten hatte, als handele es sich dabei um eine Charaktereigenschaft. Er gehe, als wisse er nicht genau, wohin er eigentlich wollte, meinte sie einmal.
Er betrat die Küche.
»Oh, du hast schon angefangen«, sagte er und setzte sich.
»Ja, tut mir leid«, sagte Claire mit vollem Mund. »Ich hatte riesigen Hunger.«
»Ich habe Alex herbestellt, ich glaube, es geht irgendwann im Laufe des Tages los.«
»Kann man das so genau sagen?«, fragte sie.
»Manchmal.«
Er nahm sich eine Portion Rührei und zwei Tomaten. Ein älterer Mann führte ein Pferd über den Hof. Obwohl sie nur einen kurzen Blick darauf werfen konnte, fielen ihr das glänzende Fell und der edle Kopf des Tieres auf.
»Das war Piet«, sagte ihr Bruder, der mit dem Gesicht zum Fenster saß.
»Mit Princess. Er bringt sie für eine halbe Stunde auf die kleine Weide vorne. Sie ist bissig, du musst dich vor ihr in Acht nehmen.«
Sie hatte nicht vor, sich den Pferden mehr als unbedingt notwendig zu nähern.
»Steht Piet für Peter?« Sie schenkte sich und Tim noch einmal Kaffee nach.
»Nein, ich nenne ihn so. Seinen richtigen Namen kann ich nicht aussprechen.«
Claire lachte. Das war wieder einmal typisch für ihren Bruder. Er schlang sein Frühstück hinunter, spülte mit Kaffee nach und stand wieder auf.
»Ich muss wieder in den Stall. Du bleibst am besten erst einmal weg. Cora kennt dich nicht. Eine Fremde würde sie nervös machen.«
»Das habe ich nicht vor«, beruhigte sie ihn. »Ich werde mich hier ein bisschen umsehen.«
»Okay, sobald ich Zeit habe, zeige ich dir alles«, versprach Tim und verschwand.
Sie spülte das schmutzige Geschirr, wischte über die Schränke und stellte den Müll in den Flur, weil sie nicht wusste, wo die Mülltonnen waren. Dann zog sie sich eine warme Jacke von Tim an und ging hinaus. Die Luft tat ihr gut, aber es war schon recht frisch. Erleichtert sah sie, dass das Haus kein Reetdach hatte, die Schindeln wirkten sogar relativ neu. Sie blieb einen Moment auf dem Hof stehen. Alles war anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Der weiße Kies war sauber und gab dem Ganzen eine adrette Note. Der Putz der Stallungen war vor nicht allzu langer Zeit gesäubert oder sogar neu aufgetragen worden. Die Fenster waren groß und nur leicht verstaubt. Auch die Scheune war nicht baufällig, sondern wirkte ganz stabil. Nein, Tim war nicht übers Ohr gehauen worden. Wenn man von der Größe des Hauses einmal absah.
Sie kam an der Weide vorbei, auf der Princess stand und graste. Bei ihrem Anblick hob sie den Kopf und legte die Ohren an und erinnerte sie einen Moment an Viktors Katze Ascot. Langsam schlenderte sie durch das offen stehende schmiedeeiserne Tor, dessen ehemals grüne Farbe abblätterte. Die verschnörkelten Ornamente wirkten romantisch.
Sie wollte einmal um das Gelände laufen. Tim hatte ihr gesagt, man könne auf einem Fußweg seinen gesamten Besitz umrunden. Der weiße Kies lag bis zur Straße und knirschte angenehm unter ihren Schuhen. Sie hielt sich rechts, umrundete die Weide und kam dann an die Hinterseite der Stallungen. Und dort entdeckte sie das große Haus, das der Scheune gegenüberlag und so aussah, wie sie sich ein eigenes Hotel immer vorgestellt hatte. Ein Hotel, das ihr gehörte und von ihr geleitet wurde. Keine Kette, die aus der Ferne gemanagt wurde. Ein Haus mit einer Geschichte oder einem Geheimnis.
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