Das Ist Mein Blut
lagen in einer Vitrine in der Nähe aus, allerdings musste jeder, der sie sich näher anschauen wollte, erst einen Hindernislauf an niedrigen Beistelltischen, einer Standuhr, einem Hutständer und mehreren Stapeln alter Bücher vorbei absolvieren. Von einer Wand blickte aus einem unrestaurierten Bilderrahmen Martin Luther nachdenklich in den Raum. Es dauerte einen Moment, ehe Römer hinter der ebenfalls mit antikem und halbantikem Kram bestückten Theke den Inhaber des Ladens entdeckte.
»Guten Morgen«, grüßte er.
Der Mann sah auf und nickte. »Kann ich helfen?«
Das hoffe ich, dachte Römer bei sich, erwiderte aber laut, er werde sich erst einmal umsehen. Er kämpfte sich zur Vitrine durch und ließ seinen Blick über die Waren schweifen. Silberne Manschettenknöpfe. Die winzige Damentaschenuhr wäre doch etwas für seine Frau. Vielleicht. So genau wusste er bei Adi nie, was ihr gefiel. Eigentlich komisch nach zwölf Jahren Ehe. Müsste man einander da nicht gut genug kennen?
»Vielleicht können Sie mir doch helfen«, wandte er sich nach einer Weile an den Inhaber. »Eigentlich suche ich einen Herrn Wolfgang Hahn – das sind Sie aber nicht, oder?«
»Ich bin Rudi Hahn«, erwiderte der andere freundlich. »Mein Vater und ich führen den Laden. Er ist heute nicht hier, sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann?«
Römer tastete nach dem Bild mit dem Abendmahlskelch, das er in der Tasche hatte. »Ja, ich weiß nicht«, murmelte er. »Ich bin der Pfarrer aus Buchfeld und … vielleicht haben Sie von dem Einbruch bei uns in der Kirche gehört.« Als der Mann nickte, fuhr er fort: »Nun, bis auf ein Stück kam das entwendete Abendmahlsgerät auf dem heute üblichen Weg zu uns – über die Neuendettelsauer Diakonie, die mit verschiedenen Handwerkern zusammenarbeitet. Einer der Kelche aber stammt ganz offensichtlich nicht aus dieser Serie, und ich habe in unseren Kirchenbüchern nachgesehen und festgestellt, dass es sich dabei um eine Stiftung der Familie Wolfgang Hahn aus den Sechzigern handelt.«
Hahn Junior nickte noch einmal. »Der Kelch, ja …« Er wirkte auf einmal nachdenklich und leicht beunruhigt. »Weshalb interessiert Sie das? Versuchen Sie, den Einbruch selbst zu klären und den Dieb zu finden?«
Römer verneinte lächelnd. »Ich habe nicht vor, der Polizei ins Handwerk zu pfuschen. Mich interessiert bloß der Kelch, und das auch nur deshalb, weil er zu meiner Kirche gehört. Ich habe mich gefragt, wie es zu dieser Stiftung kam, und auch, ob es über den Kelch vielleicht noch mehr zu wissen gibt. Es ist ein außergewöhnliches Stück.« Jetzt zog er das Bild doch heraus und zeigte es dem Händler. Hahn sah es sich lange an. »Stimmt«, pflichtete er ihm dann bei. »Ich glaube, das dürfte das Werk eines Goldschmieds sein, und ein beachtliches Stück Kunsthandwerk.« Dann blickte er zu dem Pfarrer auf. »Sie glauben aber nicht, dass es sich um ein sehr altes und kostbares Gerät handelt, hoffe ich. Wertvoll ist es sicher, und heute könnte man es bestimmt als Antiquität handeln, aber wenn Sie denken, es könnte das Werk eines Barockmeisters sein oder so etwas …« Römer lächelte schief: »Das möchte ich nicht hoffen. Dieser Diebstahl ist schon so ärgerlich genug. Aber können Sie mir vielleicht erzählen, weshalb Ihr Vater den Kelch der Buchfelder Kirche gestiftet hat? Hat er ihn von einem Goldschmied anfertigen lassen? In unseren Kirchenbüchern konnte ich nichts weiter darüber erfahren.«
Hahn stand auf und stieg mit einer Gewandtheit, die auf lange Übung schließen ließ, über eine Truhe und einen niedrigen Hocker, nahm einen antiken Stuhl und bugsierte ihn vorsichtig neben den Pfarrer. »Setzen Sie sich doch«, bat er und ließ sich selbst wieder auf seinem Sitz nieder – einem zierlich geschwungenen Biedermeiersessel, wie Römer jetzt bemerkte. Dann erzählte er, dass es seiner Mutter in den zwei Jahren vor seiner Geburt gesundheitlich sehr schlecht gegangen sei. Sie hatte eine Fehlgeburt erlitten und sich nicht richtig erholt. Ihr Hausarzt hatte damals nicht genau sagen können, was ihr eigentlich fehlte, und immer nur von psychischem Druck und »viel Ruhe« geredet. »Eines Tages kam mein Vater spät nach Hause – er war auf dem Waaler Markt im Allgäu gewesen, einem berühmten Kunsthandwerkermarkt, und es war reiner Zufall, dass er bereits an diesem Abend zurückgefahren war. Das Hotel, in dem er eine Übernachtung gebucht hatte, hatte sein Zimmer vergeben, weil er
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