Das Ist Mein Blut
noch einmal, ein leises Zittern in der Stimme. »Mein Freund – meine Eltern – ihnen ist doch nichts passiert?«
Eva riet der Frau, sich zu beruhigen, ließ aber anklingen, dass ihre Mission keinen Aufschub dulde, und machte sich auf den Weg nach Cronheim.
Hier war der berühmte Ritter Eppelein nach seiner legendären Flucht vor dem Zorn Karls IV im Schloss seines Verwandten untergeschlüpft, um für eine weitere Dekade der wahrscheinlich schon lange verdienten Hinrichtung zu entgehen. Als sie an der einstigen Trutzburg vorbeikam, die sich heute blendend weiß vor dem Tiefblau des reingewaschenen Himmels abhob, fielen Eva die alten Geschichten wieder ein. Der Huftritt auf der Mauerkrone der Nürnberger Burg, den der kühne Raubritter bei seiner tolldreisten Flucht hinterlassen hatte. Und der todlangweilige Deutschaufsatz – es musste ein Jahrhundert her sein, oder jedenfalls fühlte es sich so an –, in dem sie anhand von Eppeleins Sprung hatten erklären sollen, wie Legenden funktionierten. Die volkstümliche Erklärung für eine rätselhafte Erscheinung, für ein Bauwerk, dessen Ursprung niemand mehr kannte, für einen unerklärlichen Abdruck im Gestein … Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Herwig Römer sich damals aus völlig unerfindlichen Gründen über Fossilien ausgelassen, dadurch das Thema verfehlt und wohl zum ersten und einzigen Mal in seiner Schullaufbahn eine schlechte Deutschnote kassiert.
Aus irgendeinem unlogischen und wahrscheinlich eher niederen Beweggrund heraus besserte sich Evas Laune bei dieser Erinnerung, doch ihre Unbeschwertheit verflog schlagartig, als sie Klara Weiß gegenüberstand.
Die Frau, mit der Kronauer eins seiner Kinder gezeugt hatte, musste um die dreißig sein, doch sie hatte etwas Zierliches und Mädchenhaftes an sich. Ihre Augen wirkten dunkel und viel zu groß in dem unnatürlich blassen Gesicht, das ihre Anspannung deutlich verriet. Sie strahlte Unruhe und Verletzlichkeit aus, aber darunter schien noch etwas anderes zu liegen, Bitterkeit oder eine gewisse Härte vielleicht, die das Leben ihr aufgezwungen haben mochte. Sie stand neben den Fahrrädern vor dem Schloss, ihr Handy in einer Hand, die andere fingerte ruhelos an den Riemen eines alten Tourenrucksacks herum.
»Frau Schatz?«, fragte sie mit derselben leisen, unsicheren Stimme, die Eva schon am Telefon gehört hatte. »Ich habe Constanze ins Museum geschickt« – sie deutete mit einer fahrigen Handbewegung zum Schloss hinüber. »Damit wir ungestört reden können.« Eine zweite Geste, diesmal in die andere Richtung. »Die Kirche ist offen …«
Sie bekreuzigte sich, als sie in den Kirchenraum traten, während sich Eva entschieden fehl am Platz fühlte.
»Constanze, das ist Ihre Tochter, nicht wahr?«, fragte sie, um das Gespräch auf unverfängliche Weise zu beginnen.
Die Frau nickte.
»Wie alt ist Constanze?«
»Acht. Sie ist acht. In dem Seenlandführer steht, die Radtour eignet sich für Kinder ab acht Jahren. Ich hoffe, das Museum ist nicht zu langweilig für sie ohne mich.« Ihr Blick, der in die Ferne gegangen war, richtete sich plötzlich mit beunruhigender Intensität auf Evas Gesicht. »Aber Sie wollen nicht über Constanze reden, nicht wahr? Bitte sagen Sie mir, was los ist.«
»Constanze ist nicht die Tochter Ihres jetzigen Partners, nicht wahr?«, fragte Eva, die aus irgendeinem Grund noch immer zögerte, zur Sache zu kommen.
»Nein, aber das wissen Sie schon, oder? Was …«
»Wann haben Sie Dietmar Kronauer das letzte Mal gesehen? Haben Sie ihn hier getroffen?«
Klara Weiß sah sie nicht an. Der Blick ihrer ungewöhnlich dunklen und großen Augen glitt über das Holz der Kirchenbänke, dann über den steinernen Boden, sog sich an den Ritzen zwischen den Bodenplatten fest.
»Frau Weiß«, wiederholte Eva eindringlich, »wann haben Sie Constanzes Vater zuletzt gesehen? Bitte antworten Sie mir.«
»Ich … am … am Montag«, kam die Antwort sehr leise. »Wir sind zum Brombachsee gefahren, und wir haben eine Bootstour gemacht. Am Montag«, sagte sie noch einmal, als müsse sie ihre Zuhörerin – oder sich selbst – überzeugen.
Eva musste sich beinahe zwingen, die nächste Frage zu stellen. Die Situation war denkbar unbehaglich: »Wann haben Sie sich von Kronauer getrennt? Oder er sich von Ihnen?«
Diesmal kam die Antwort prompt. »Das ist lange her. Wir waren nicht lange zusammen. Als Constanze ein halbes Jahr alt war … eigentlich waren wir nie richtig zusammen, das war
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