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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Also ergriff ich die Flucht nach vorn. »Das mit Burt tut mir sehr leid«, sagte ich. »Mit deinem Vater. Dass er so sterben musste. Ich fühle mich mitverantwortlich.«
    Sie sah mich an, als wäre ich verrückt. »Was meinst du damit?«
    »Ich hatte dir doch damals erzählt, er hätte was mit Nuala, und du hast es Veena erzählt, und sie ist ausgerastet und hat das CorpSeCorps angerufen. Es ist nur, ich glaube, er hatte gar nichts mit Nuala. Ich und Amanda − wir hatten uns das mehr oder weniger ausgedacht, aus Gemeinheit. Ich fühl mich ganz schrecklich deswegen, und es tut mir wirklich leid. Ich glaube, er hat höchstens den Mädchen unter die Achseln gefasst, aber nicht mehr als das.«
    »Nuala war immerhin erwachsen«, sagte Bernice. »Aber bei den Achseln ist es nicht geblieben. Bei den Mädchen. Er war wirklich degeneriert, genau wie meine Mutter immer gesagt hat. Zu mir meinte er immer, ich wäre sein Lieblingsmädchen, aber nicht mal das stimmte. Also hab ich’s Veena erzählt. Deshalb hat sie ihn verpfiffen. Du kannst also aufhören, dich so wichtig zu nehmen.« Wieder der böse Blick, wenn auch diesmal mit geröteten Augen voller Tränen. »Du hast einfach nur Glück gehabt, dass du davongekommen bist.«
    »Ach so«, sagte ich. »Bernice, tut mir echt leid.«
    »Ich will jetzt nicht mehr darüber reden«, sagte Bernice. »Ich möchte meine Zeit lieber mit produktiven Dingen verbringen.« Sie fragte, ob ich mitkäme, um Anti-Happicuppa-Transparente zu beschriften, aber ich sagte, ich hätte schon eine Vorlesung geschwänzt, vielleicht ein andermal. Sie warf mir ihren schlitzäugigen Blick zu, mit dem sie sagen wollte, sie wisse genau, dass ich mich nur drücken will. Dann fragte ich, wie ihr ehemaliger Mitbewohner Jimmy denn ausgesehen habe, und sie sagte, was geht dich das überhaupt an?
    Sie war schon wieder in ihrem alten Kommandiermodus, und ich wusste, wenn ich noch mehr Zeit mit ihr verbrachte, wäre ich wieder neun Jahre alt und sie hätte mich wieder genauso unter ihrer Fuchtel, nur noch schlimmer, denn egal, wie schwer ich es hatte, sie hatte es definitiv schwerer und konnte sich immer als Opfer aufspielen. Ich sagte, ich müsse jetzt wirklich los, und sie sagte: »Klar«, und dann sagte sie, ich hätte mich überhaupt nicht verändert, ich sei noch dasselbe weinerliche Leichtgewicht wie eh und je.
    *
    Jahre später − als ich schon im Scales and Tails arbeitete − sah ich in den Nachrichten, dass Bernice bei einer Razzia in einem Gärtner-Schutzhaus erschossen worden war. Das war, nachdem die Gärtner verboten worden waren. Aber Bernice hatte sich anscheinend von dem Verbot nicht beeindrucken lassen; sie war ein Mensch, dermutig für seinen Glauben eintrat. Das musste man ihr wirklich lassen − ihren Glauben und auch ihren Mut −, denn ich hatte nicht das Gefühl, das eine oder das andere je gehabt zu haben.
    Die Kamera fuhr dicht an ihr totes Gesicht heran, das sanftmütiger und friedlicher aussah, als ich es jemals im lebendigen Zustand gesehen hatte. Vielleicht war das die wahre Bernice, dachte ich − lieb und unschuldig. Vielleicht war sie im Inneren ihres Herzens wirklich so, und unsere vielen Streitereien und ihre unschönen Ecken und Kanten waren nur ein mühsamer Weg gewesen, unter dem Panzer hervorzukommen, den sie sich wie ein Käfer am ganzen Körper zugelegt hatte. Aber egal, wie sehr sie um sich schlug und wütete, sie war immer darin gefangen gewesen. Bei dem Gedanken tat sie mir so leid, dass mir die Tränen kamen.
     
    52.
     
    Vor dem Gespräch mit Bernice, bei der sie mir von ihrem ehemaligen Mitbewohner erzählte, hatte ich halb damit gerechnet, Jimmy zu begegnen − im Seminarraum, bei Happicuppa oder einfach so im Vorbeigehen. Aber jetzt hatte ich die Zwangsvorstellung, dass er ganz in der Nähe sein musste. Er war gleich um die Ecke oder auf der anderen Seite eines Fensters; oder ich würde eines Morgens aufwachen und da wäre er, direkt neben mir, er würde mir die Hand halten, und mich ansehen wie früher, als wir gerade zusammengekommen waren. Ich fühlte mich regelrecht verfolgt.
    Vielleicht ist Jimmy ja meine Urprägung, dachte ich. Wie ein Entenjunges, das aus dem Ei schlüpft und als Erstes ein Wiesel sieht und für den Rest ihres Entenlebens dem Wiesel hinterherläuft. Was eher kurz sein wird. Warum musste ausgerechnet Jimmy meine erste Liebe sein? Warum nicht jemand mit einem besseren Charakter? Oder zumindest ein weniger unbeständiger Mensch. Ein

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