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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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herbeigezogen.
    Als ich schließlich im Torpedozug saß, hatte ich Jimmy schon ewig nicht mehr gesehen. Nein: Es war ewig her, seit Jimmy in mich verliebt gewesen war − wenn ich gerade mal ehrlich und nicht nur wütend oder traurig war, da wusste ich, dass ich immer noch in Jimmy verliebt war. Ich schlief zwar auch mit anderen Jungs, aber völlig mechanisch. Ich wollte auf die Martha Graham, teilweise um von Lucerne wegzukommen, aber teilweise auch, weil ich ja irgendwas tun musste, warum sich also nicht ein bisschen Bildung holen. So sagte man immer, als wäre Bildung so was wie ein Kleid. Was aus mir wurde, war mir sowieso egal, ich fühlte mich einfach nur grau.
    Das war überhaupt keine Gärtnereinstellung. Die Gärtner sagten, die einzig wahre Bildung sei die des Geistes. Aber ich hatte vergessen, was sie damit meinten.
    *
    Martha Graham war eine Uni für musisch Begabte, benannt nach einer berühmten urzeitlichen Tänzerin, insofern konnte man dort auch Tanz studieren. Da ich ja irgendwas studieren musste, studierte ich Tanzgymnastik und Theatertanz − dafür brauchte man weder ein reiches Elternhaus noch Mathe. Damit hätte ich Chancen, in einem der Konzerne unterzukommen und die Gymnastikkurse zu leiten, die in den besseren Firmen in der Mittagspause angeboten wurden. Muskeltraining mit Musik, Yoga fürs mittlere Management − so was in der Art.
    Mit dem Martha Graham Campus war es genau wie mit den Wohnungen im Buenavista-Haus − irgendwann hatte es echt mal was hergemacht, aber inzwischen fiel alles auseinander, überall war Schimmel, und durch die Decken regnete es durch. Das Zeug aus der Cafeteria konnte ich nicht essen, denn wer weiß, was da drin war − ich hatte nach wie vor ein großes Problem mit tierischen Eiweißen, vor allem mit Organen und Nasen. Trotzdem fühlte ich mich mehr zu Hause als im HelthWyzer-Komplex, denn wenigstens war Martha Graham nicht so vornehm und künstlich und es roch nicht überall nach chemischen Putzmitteln. Oder überhaupt nach Putzmitteln.
    Alle Erstsemester auf der Martha Graham mussten in Doppelzimmern wohnen. Mein Mitbewohner hieß Buddy der Dritte; ich sah ihn nicht oft. Er war in der Footballmannschaft, aber Martha Graham wurde jedes Mal zusammengefaltet, und aus diesem Grund war Buddy der Dritte oft besoffen oder zugekifft. Ich verriegelte auf meiner Seite unseres gemeinsamen Badezimmers immer die Tür, weil die Jungs von der Footballmannschaft notorische Vergewaltiger waren, und ich glaubte nicht, dass sich Buddy lange bitten lassen würde, jedenfalls hörte ich ihn morgens immer kotzen.
    *
    Auf dem Campus befand sich eine Happicuppa-Filiale, und da ging ich immer frühstücken, wegen der veganischen Muffins, weil ich dann Buddy nicht beim Kotzen zuhören musste und weil ich da den Waschraum benutzen konnte, der weniger stank als meiner. Eines Tages wollte ich gerade zu Happicuppa, und da stand Bernice. Ich erkannte sie sofort. Ich war total überrascht, sie zu sehen. Es war wie ein Schock − wie ein Stromschlag. Das ganze schlechte Gewissen ihretwegen, das ich mehr oder weniger vergessen hatte, kam zurückgeflutet.
    Sie trug ein grünes T-Shirt mit dem großen Buchstaben G und hatte ein Schild in der Hand, auf dem HAPPICUPPA? NICHT DIE BOHNE! stand. Zwei andere Leute im selben T-Shirt hatten andere Schilder in der Hand: TEUFELSGEBRÄU und TOD IN DER TASSE. An ihren Klamotten und Gesichtsausdrücken erkannte ich, dass es sich um extrem fanatische Ultra-Grüne handelte, und sie riefen zum Boykott des Happicuppa-Ladens auf. Es war das Jahr der Happicuppa-Demos − sah man dauernd in den Nachrichten.
    Bernice war nicht hübscher geworden. Wenn, dann stämmiger, und ihre Miene war noch grimmiger. Sie sah mich nicht, also hatte ich die Wahl: Ich hätte einfach an ihr vorbeispazieren können, zu Happicuppa reingehen und tun, als hätte ich sie nicht gesehen, oder ich hätte mich umdrehen und unauffällig zurückgehen können. Aber ich schaltete automatisch zurück in den Gärtnermodus, die vielen Lektionen zum Thema Verantwortung fielen mir wieder ein und dass man essen musste, was man getötet hatte. Und in gewisser Weise hatte ich Burt getötet. Zumindest kam’s mir so vor.
    Ich drückte mich also nicht vor der Verwantwortung. Stattdessen marschierte ich direkt auf sie zu und sagte: »Bernice! Ich bin’s − Ren!«
    Sie machte einen kleinen Sprung, als hätte ich sie getreten. Dann sah sie mich durchdringend an. »Das seh ich«, sagte sie schlecht

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