Das Jahr der Flut
ernsthafterer Mensch, der nicht ständig den Clown spielen muss.
Das Schlimmste daran war, dass ich für niemanden sonst Interesse aufbringen konnte. In meinem Herzen klaffte eine Lücke, die nur Jimmy füllen konnte. Ich weiß, das klingt total nach Country-Schnulze − von dieser Art weltlicher Musik hatte ich inzwischen auf meinem See/H/Öhr-LekkerBit genug gehört −, aber anders konnte ich es mir nicht erklären. Und es ist nicht so, dass ich nicht um Jimmys Fehler gewusst hätte.
*
Irgendwann sah ich Jimmy natürlich doch. Der Campus war nicht so riesig, also musste es früher oder später passieren. Ich sah ihn von weitem, er sah mich, aber er kam nicht zu mir rübergerannt. Er blieb auf Distanz. Er winkte nicht mal, sondern schaute weg, als hätte er mich gar nicht gesehen. Wenn ich auf eine Antwort auf die nagende Frage gewartet hatte − »Liebt Jimmy mich noch?« −, hatte ich sie jetzt.
Dann lernte ich in der Tanzgymnastik ein Mädchen kennen − Shayluba Irgendwas −, die eine Weile mit Jimmy zusammen gewesen war. Sie sagte, anfangs sei es toll gewesen, aber dann habe er irgendwann immer wieder davon angefangen, wie schlecht er für sie sei, er könne niemandem treu sein wegen einer Freundin damals in der Schule. Sie seien zu jung gewesen, die Sache habe kein gutes Ende genommen und er sei seitdem ein emotionaler Mülleimer, aber vielleicht sei er ja von Natur aus destruktiv, denn jedes Mädchen, das er anrühre, sei am Ende verkorkst.
»Hieß sie Wakulla Price?«, fragte ich.
»Nein, hieß sie nicht«, sagte Shayluba. »Du warst es. Er hat mir dich gezeigt.«
Jimmy, du bist so ein Betrüger und verdammter Lügner, dachte ich. Aber dann überlegte ich, vielleicht stimmt es ja. Vielleicht hatte ich Jimmy genauso das Leben verpfuscht wie er mir meins.
Ich versuchte, ihn komplett zu vergessen. Aber es ging irgendwie nicht. Mir seinetwegen das Leben schwerzumachen war zu einer schlechten Angewohnheit geworden, wie Nägelkauen. Immer mal wieder sah ich ihn in der Ferne vorbeiziehen, was so ähnlich war, wie nur eine Zigarette zu rauchen, obwohl man aufhören will − und schon ist man wieder süchtig. Nicht dass ich jemals geraucht hätte.
*
Ich war schon fast zwei Jahre auf der Martha Graham, als ich richtig schlimme Nachrichten bekam. Lucerne rief an und erzählte, dass mein Biovater Frank von einem rivalisierenden Konzern irgendwo östlich von Europa entführt worden war. Die Konzerne da drüben versuchten ständig, in unseren Konzernen zu wildern − deren verdeckte Schlägertrupps waren noch brutaler als unsere, und sie waren im Vorteil, denn sie konnten besser Fremdsprachen und konnten sich als Einwanderer ausgeben. Umgekehrt ging nicht, denn wozu hätten wir bei denen einwandern sollen?
Sie hatten Frank direkt im Komplex überfallen − in der Herrentoilette seines Laborgebäudes, sagte Lucerne − und ihn in einem ZizzyFroot-Lieferwagen weggeschafft; dann hatten sie ihn in einem Luftschiff quer über den Atlantik geflogen, einbandagiert und als Patient getarnt, der sich gerade von einer Gesichtsoperation erholt. Schlimmer noch, sie hatten eine DVD zurückgeschickt, auf der er sichtlich unter Drogeneinfluss ein Geständnis ablegt, dass HelthWyzer schon seit langem einen schleichenden und unheilbaren transgenen Krankheitskeim in ihre Zusätze schleuste, um die Erkrankten für teures Geld zu behandeln. Es war Erpressung, nichts weiter als das, sagte Lucerne − sie würden Frank für ein paar heißbegehrte Formeln eintauschen, Formeln vor allem gegen schleichende Krankheiten, und davon absehen, die belastende DVD zu veröffentlichen. Andernfalls, so hatten sie gedroht, würde sich Franks Kopf wohl leider von seinem Körper trennen müssen.
HelthWyzer hatte eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt, und man hatte beschlossen, dass ihnen die Krankheitskeime und Formeln mehr wert waren als Frank. Und was die schlechte Presse anging, die konnte an der Wurzel gepackt werden, da der Medienkonzern darüber bestimmte, was in die Nachrichten kam und was nicht. Und das Internet war so ein Durcheinander an Scheinwahrheiten, dass niemand mehr irgendetwas für bare Münze nahm, oder man nahm alles für bare Münze, was auf dasselbe hinauslief. HelthWyzer war also nicht bereit, die Zeche zu zahlen. Sie sagten, Lucernes Verlust sei bedauerlich, aber es entspreche nicht der Firmenpolitik, sich erpresserischen Forderungen zu beugen, da so etwas nur zu weiteren Entführungen auffordern würde, die ohnehin
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