Das Jahr der Flut
Vielleicht braucht sie ein größeres Ziel, ein Reh oder einen Hund. Die Schweine hat sie in letzter Zeit nicht mehr gesehen, die Schafe auch nicht. Ausgerechnet jetzt, wo sie fast so weit ist, sie zu essen, machen sich die Tiere rar.
In einem Regal im Wäschezimmer findet sie die Rucksäcke. Seit die Pumpen den Geist aufgegeben haben, ist sie nicht mehr unten gewesen, und die Luft starrt vor Schimmel. Zum Glück sind die Rucksäcke nicht aus Baumwolle, sondern aus undurchlässigem Synthetikmaterial. Sie nimmt sie mit aufs Dach, wäscht sie mit dem Schwamm, legt sie zum Trocknen in die heiße Sonne.
Sie breitet die noch vorhandenen Vorräte auf der Küchentheke aus. Tragt nie so schwer, dass ihr mehr Kalorien verbrennt, als ihr essen könnt, sagt Zebs Stimme. Waffen sind wichtiger als Lebensmittel. Eure beste Waffe ist euer Hirn.
Das Gewehr natürlich. Munition. Einen Spaten, um Wurzeln auszugraben. Streichhölzer. Grillanzünder, nicht mehr viel, kann man aber ruhig aufbrauchen. Ein Taschenmesser mit Schere und Pinzette. Ein Seil. Zwei Plastikplanen gegen Regen. Dynamotaschenlampe. Mullbinden. Klebeband. Plastikbehälter mit Schnappverschluss. Stofftüten für wildwachsende Speisen. Kochtopf. Den Kellykessel. Toilettenpapier − reiner Luxus, aber sie kann nicht widerstehen. Zwei mittelgroße ZizzyFroot-Flaschen aus einer Minibar, Geschmacksrichtung Himbeere: ungesund, aber immerhin etwas und sehr kalorienreich. Die Flaschen können sie danach mit Wasser auffüllen.
Löffel aus Metall, zwei Stück; Tassen aus Plastik, zwei Stück. Den Rest Sonnenschutzmittel. Die letzte Flasche SuperD-Insektenspray. Fernglas: schwer, aber unverzichtbar. Der Stiel des Wischmopps. Zucker. Salz. Den Rest Honig. Die letzten Kickriegel. Die letzten Sojabits.
Am Tag vor der Abreise schneidet sie sich die Haare. Sie ist jetzt richtig kurzgeschoren − sie sieht aus wie Jeanne d’Arc an einem schlechten Tag −, aber sie will keinen praktischen Haargriff auf dem Kopf, an dem man sie packen kann, um ihr die Kehle durchzuschneiden. Auch Ren schneidet sie die Haare. Schwitzt man weniger, sagt sie zu ihr.
»Wir sollten die Haare begraben«, sagt Ren. Aus unerfindlichen Gründen kann sie den Anblick nicht ertragen.
»Warum legen wir sie nicht aufs Dach?«, sagt Toby. »Dann können die Vögel sie für ihre Nester benutzen.« Sie hat nicht vor, durch das Ausheben einer Grabstätte für Haare unnötig Kalorien zu verbrennen.
»Ach so. Okay«, sagt Ren. Diese Idee scheint sie glücklich zu stimmen.
67.
Toby. Sankt Chico Mendes, Märtyrer, Jahr Fünfundzwanzig
Kurz vor Morgengrauen verlassen sie das Spa. Sie haben rosa Gymnastikkleidung aus Baumwolle an, die weiten Hosen und T-Shirts mit dem Kussmund und dem zwinkernden Auge auf der Brust. Rosa Leinenschuhe, wie sie die Damen damals zum Seilspringen und Gewichtheben trugen. Breitkrempige rosa Hüte. Sie riechen nach SuperD und ranzigem SolarNix. In ihren Rucksäcken sind die rosa UV-Mäntel für die Zeit, wenn die Sonne zu hoch steht. Wäre nur nicht alles so rosa, denkt Toby − wie Babykleidung oder Mädchengeburtstag. Nicht gerade die Farbe von Abenteuer. Tarnung geht anders.
Sie weiß, die Situation ist ernst, wie es früher in den Nachrichten immer hieß − natürlich ist sie das. Dennoch ist sie gut gelaunt, fast schon albern. Als wäre sie leicht beschwipst. Als wollten die beiden nur picknicken gehen. Wahrscheinlich ein Adrenalinschub.
Am östlichen Horizont wird es hell, Nebel steigt von den Bäumen auf. Der Morgentau schimmert auf den Lumirosensträuchern, spiegelt das schwache unheimliche Licht ihrer Blüten wider.
Die Süße der feuchten Wiese atmet ringsum ein und aus. Die Vögel regen sich und beginnen zu tschilpen; die Geier auf den kahlen Ästen breiten ihre Flügel zum Trocknen aus. Von Süden her flattert ein Pfaureiher auf sie zu, segelt über die Wiese und taucht hinab, um am Rand des grün versumpften Swimmingpools zu landen.
Toby wird klar, dass sie das alles vielleicht zum letzten Mal sieht. Verblüffend, wie sich das Herz an alles Vertraute klammert, wie es Meins, meins! klagt. Hat sie ihren Zwangsaufenthalt im AnuYu-Spa genossen? Nein. Dennoch ist es jetzt ihr Heimatgebiet: Sie hat überall ihre Hautschüppchen hinterlassen. Eine Maus würde begreifen: Es ist ihr Nest. Lebewohl ist das Lied, das die Zeit singt, würde Adam Eins sagen.
Irgendwo bellen Hunde. Über die letzten Monate hinweg hat sie immer wieder welche gehört, aber heute klingt es, als
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