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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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wären sie in der Nähe. Kein schöner Gedanke. Jetzt, wo niemand da ist, um sie zu füttern, werden alle übrig gebliebenen Hunde zu Wildhunden geworden sein.
    Vor dem Aufbruch war sie noch einmal auf dem Dach, um einen Blick über die Wiesen zu werfen. Keine Schweine, keine Mo’Hairschafe, keine Löwämmer. Zumindest nicht in Sicht. Wie wenig ich gesehen habe, denkt sie. Wiese, Auffahrt, Swimmingpool, Garten, Waldrand. Um den Wald wollte sie lieber einen Bogen machen. Kann schon sein, dass die Natur so dumm ist wie Bohnenstroh, sagte Zeb damals, aber sie ist immer noch schlauer als ihr.
    Pass auf, denkt sie in den Wald hinein, mit seinen versteckten Schweinen und Löwämmern. Und vielleicht auch Painballern, wer weiß. Legt euch mit mir nicht an. Ich bin zwar rosa, aber ich habe ein Gewehr. Und Kugeln. Mit größerer Reichweite als ein Spraygewehr. Also, Arschlöcher: Wagt es nicht.
    *
    Das Spa-Gelände und der umgebende Wald sind vom Heritage Park durch einen Maschendrahtzaun mit elektrischem Stacheldraht abgetrennt, wobei der inzwischen nicht mehr unter Strom stehen wird. Vier Eingangstore nach Osten, Westen, Norden und Süden, verbunden durch serpentinenartige Auffahrten. Tobys Plan sieht vor, am östlichen Tor die Nacht zu verbringen. Es ist nicht zu weit für Ren: Noch fehlt ihr die Kraft für einen Gewaltmarsch. Übermorgen früh können sie sich dann langsam in Richtung Meer aufmachen.
    Ren ist noch immer überzeugt, dass sie Amanda finden werden. Sie werden sie finden, und Toby wird die Painballer mit ihrem Gewehr erschießen, und dann werden Shackleton, Crozier und Oates irgendwo aus ihrem Versteck auftauchen. Ren ist noch immer mitgenommen von ihrer Krankheit. Sie will, dass Toby alles wieder gut macht, als wäre sie noch ein Kind; als wäre Toby noch immer Eva Sechs und hätte Erwachsenenzauberkräfte.
    Sie kommen an dem rosa Lieferwagenwrack vorbei, folgen der Wegbiegung, wo zwei weitere Fahrzeuge stehen − ein Solarauto und ein Boilermüllfresser von der Größe eines Jeeps. Den schwarzen Trümmern nach zu urteilen, müssen beide gebrannt haben. Der verkohlte Geruch ist von etwas Rostigem, Süßlichem durchwirkt.
    »Nicht reingucken«, sagt Toby zu Ren im Vorbeigehen.
    »Schon okay«, sagt Ren. »Ich hab so was öfter gesehen, in den Plebs, auf dem Weg hierher vom Scales.«
    Ein Stück weiter liegt ein Hund − ein Spaniel −, noch nicht lange tot. Irgendein Tier hat ihm den Leib aufgerissen; verschlungene Gedärme, ein Summen von Fliegen, aber noch keine Geier. Was immer es war, es wird sicher zu seiner Beute zurückkehren; Räuber verschwenden nicht gern. Toby beäugt das Gebüsch am Straßenrand: Die Ranken wachsen fast hörbar, beeinträchtigen die Sicht. Kudzu, wohin das Auge reicht. »Wir sollten schneller gehen«, sagt sie.
    Aber Ren kann nicht schneller gehen. Sie ist müde, ihr Rucksack ist zu schwer. »Ich glaub, ich krieg eine Blase«, sagt sie. Sie halten unter einem Baum, um einen Schluck ZizzyFroot zu trinken. Toby wird das Gefühl nicht los, dass irgendetwas in den Ästen hockt und nur darauf wartet, sie anzufallen. Können Löwämmer auf Bäume klettern? Sie zwingt sich, langsamer zu gehen, tief durchzuatmen, sich Zeit zu lassen.
    »Zeig mal her, deine Blase«, sagt sie zu Ren. Es ist noch keine Blase. Sie reißt ein Stück von ihrem UV-Mantel ab und verbindet Ren den Zeh. Die Sonne steht auf zehn Uhr. Sie ziehen die UV-Mäntel über, Toby cremt sich und Ren das Gesicht noch einmal mit SolarNix ein und besprüht sie beide mit SuperD.
    Noch bevor sie die nächste Biegung erreicht haben, beginnt Ren zu humpeln.
    »Wir nehmen die Abkürzung über die Wiese«, sagt Toby. »Geht schneller.«

SANKT RACHEL UND ALLERVÖGEL

Jahr Fünfundzwanzig
     
    Von den Gaben der heiligen Rachel u
nd von der Freiheit des Geistes
    Gesprochen von Adam Eins
     
    Liebe Freunde, liebe Mitgeschöpfe und liebe Mitsterbliche:
    Wir haben Anlass zur Freude in dieser neugeordneten Welt, in der wir nun leben! Ja, es herrscht eine gewisse − wir wollen nicht sagen, Enttäuschung. Was die wasserlose Flut zurückgelassen hat, ist wie bei allen zurückgehenden Fluten wenig ansprechend. Es wird seine Zeit dauern, bis unser ersehnter Garten Eden wieder in Erscheinung tritt, meine Freunde.
    Doch welch ein Privileg, dass wir diese ersten kostbaren Augenblicke der Wiedergeburt erleben dürfen! Wie viel klarer die Luft jetzt ist, ohne die menschengemachte Luftverschmutzung! Die frisch gereinigte Luft ist für unsere Lungen

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