Das Jahr der Flut
Amanda? Ich muss mich anziehen.«
»Ganz ruhig«, sagt Toby. »Amanda ist nicht weit. Jetzt versuch zu schlafen.« Behutsam bettet sie Ren zurück. Amanda gibt’s also auch noch, denkt sie. Nichts als Ärger mit dem Mädchen.
»Ich kann nichts sehen«, sagt Ren. Sie zittert am ganzen Leib.
Zurück in der Küche, gießt Toby den Rest kochenden Wassers in eine Schale: Erst mal müssen diese verlotterten Federn und Pailletten ab. Sie trägt die Schale, eine Schere, Seife und einen Stapel rosa Waschlappen in Rens Kabine, schlägt das Laken zurück und schneidet das verdreckte Kostüm auf. Unter den Federn ist kein Stoff, sondern eine andere Substanz. Etwas Elastisches. Fühlt sich fast an wie Haut. Was noch klebt, weicht sie ein, um es anschließend besser abschälen zu können. Im Schritt fehlt der Stoff. Ach herrje, denkt Toby. Später wird sie ihr einen Verband machen.
Der Hals ist wundgescheuert, sicherlich von dem Seil. Die Schnittwunde am linken Bein ist es, was eitert. Toby geht so sachte vor wie möglich, dennoch zuckt Ren zusammen und jammert. »Aua, verdammt nochmal!« Dann übergibt sie sich von dem Salz-und Zuckerwasser.
Nachdem sie den Schmutz entfernt hat, kümmert sich Toby um die Wunde am Bein. »Was hast du gemacht?«, fragt sie.
»Weiß ich nicht«, sagt Ren im Flüsterton. »Bin hingefallen.«
Toby säubert die Wunde und betupft sie mit Honig. Im Honig sind Antibiotika, sagte Pilar immer. Irgendwo im Haus muss es einen Verbandskasten geben. »Halt still. Sonst gibt’s Gangrän.«
Ren kichert. »Klopf, klopf«, sagt sie. »Ganggrün.«
Die schmutzige Hülle ist jetzt ganz ab und Ren einigermaßen sauber. »Ich geb dir jetzt eine Tasse Weide mit Kamille«, sagt Toby. Mit Schlafmohn, denkt sie. »Du musst schlafen.« Auf dem Boden wird Ren sicherer liegen als auf dem Tisch: Sie baut ihr ein Nest aus rosa Handtüchern, bettet sie sanft darauf, polstert sie zusätzlich ab, denn Ren schafft es nicht zur Toilette, sie ist zu schwach. Sie glüht wie Kohle.
In einem kleinen Glas bringt Toby die Weidenmixtur. Ren trinkt, ihr Hals bewegt sich wie bei einem Vogel. Die Medizin behält sie bei sich.
Maden würden jetzt noch nichts bringen. Dafür muss Ren bei Sinnen und in der Lage sein, Instruktionen zu befolgen: Nicht kratzen, zum Beispiel. Erst einmal muss das Fieber gesenkt werden.
*
Während Ren schläft, sichtet Toby ihren Trockenpilzvorrat. Sie wählt diejenigen Pilze aus, die das Immunsystem stärken: Glänzenden Lackporling, Klapperschwamm, Shiitake, Birkenporling, Eichhase, Igelstachelbart, Raupenpilz, Zunderschwamm. Sie weicht sie in kochendes Wasser ein. Am Nachmittag braut sie für Ren ein Pilzelixier − köcheln, sieben, auskühlen lassen − und gibt ihr dreißig Tropfen davon zu trinken.
Die Kabine stinkt. Toby richtet Ren auf, rollt sie auf die Seite, zieht die verschmutzten Laken unter ihr hervor, wischt sie sauber. Dazu hat sie sich Gummihandschuhe angezogen: Sie hat keine Lust, sich im Zweifelsfall noch die Ruhr zu holen. Sie legt saubere Handtücher aus, bettet Ren erneut darauf. Sie lässt Arme und Kopf hängen; sie murmelt wirres Zeug.
Da kommt Arbeit auf mich zu, denkt Toby. Und wenn sich Ren erholt − falls sie sich erholt −, wird es zwei Esser geben anstatt nur einen. Der Lebensmittelvorrat wird doppelt so schnell schrumpfen. Das, was noch davon übrig ist. Und viel ist es nicht.
Vielleicht erliegt Ren ja auch ihrem Fieber. Vielleicht stirbt sie im Schlaf.
Toby denkt an ihre Todesengel. Es wäre schnell getan. Nur ein klein wenig, bei Rens geschwächtem Zustand. Um sie von ihrem Leiden zu befreien. Sie auf weißen, weißen Flügeln davontragen lassen. Vielleicht wäre es besser so. Ein Segen.
Was bin ich für ein unwürdiger Mensch, denkt Toby. So etwas auch nur zu denken. Du kennst dieses Mädchen seit ihrer Kindheit, sie ist zu dir gekommen, hilfesuchend, sie hat jedes Recht, dir zu vertrauen. Adam Eins würde sagen, Ren sei ein kostbares Geschenk, damit Toby sich in Selbstlosigkeit, Gemeinschaftssinn und jenen höheren Eigenschaften üben könne, die die Gärtner so fleißig in ihr hervorgekehrt hatten. Das sieht Toby jetzt etwas anders, zumindest im Moment. Da wird sie sich wohl weiterhin bemühen müssen.
Ren seufzt, stöhnt und schlägt um sich. Sie träumt schlecht.
*
Als es dunkel ist, zündet Toby eine Kerze an, setzt sich an ihre Seite und lauscht ihren Atemzügen. Einatmen, ausatmen. Pause. Einatmen, ausatmen. Schlotternde Atemzüge. Immer wieder
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