Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
her.
    Am zweiten Morgen ist Ren fieberfrei, aber Toby setzt die Pilztropfen noch nicht ab. Ren hat schon wieder Appetit. Im frühen Morgenlicht hilft Toby ihr die Treppe hinauf bis aufs Dach und setzt sie auf die Kunstholzbank. Die Maden sind photophob: Das Licht treibt sie in die tiefsten Winkel der Wunde, und genau da sollen sie hin.
    Nichts rührt sich draußen auf der Wiese. Kein Laut dringt aus dem Wald.
    Toby versucht aus Ren herauszubekommen, wo sie seit Ausbruch der Flut gewesen, wie sie ihr entkommen ist, wie sie hierhergefunden, was es mit den blauen Federn auf sich hat; aber sie belässt es bei einem einzigen Versuch, denn Ren fängt wieder an zu weinen. Sie sagt immer nur: »Ich hab Amanda verloren!«
    »Lass mal«, sagt Toby. »Wir finden sie schon wieder.«
    Am vierten Morgen entfernt Toby das Madenpflaster: die Wunde ist sauber und auf dem Weg der Heilung. »Jetzt müssen wir deine Muskeln aufbauen«, sagt sie zu Ren.
    Ren beginnt zu laufen, treppauf, treppab, die Gänge entlang. Sie hat etwas zugenommen: Toby hat ihr die letzten Gläser Gesichtsmaske mit Zitronenbaisergeschmack gegeben, mit viel Zucker, aber ohne erkennbare Giftstoffe. Sie führt Ren durch ein paar Übungen aus Zebs altem Gewaltminimierungskurs − satsuma und unagi. Zentriert wie eine Frucht, geschmeidig wie ein Aal. Sie hat die Auffrischung genauso nötig, sie ist völlig aus der Übung.
    *
    Ein paar Tage später erzählt Ren ihre Geschichte oder zumindest einen Teil davon. In kurzen verkrampften Sätzen platzt es aus ihr heraus, und immer wieder blickt sie starr vor sich hin. Sie erzählt von ihrer Isolation im Scales, und wie Amanda aus dem fernen Wisconsin angereist war und den Türcode geknackt hatte. Dann waren Shackie, Croze und Oates aus dem Nichts aufgetaucht, wie durch Zauberei, und sie hatte sich so gefreut − die drei waren im Painball vor der Seuche geschützt gewesen. Aber dann waren die drei schrecklichen Männer von der goldenen Mannschaft ins Scales gekommen, und sie und Amanda und die Jungs waren geflohen. Sie hatte das AnuYu vorgeschlagen wegen Toby, und sie waren fast schon da − sie gingen gerade durch den Wald, und plötzlich wurde alles schwarz. Bis zu diesem Punkt kommt sie und nicht weiter.
    »Wie sahen sie aus?«, fragt Toby. »Hatten sie irgendwelche …?« Sie will sagen, »besondere Kennzeichen«, aber Ren schüttelt den Kopf, das heißt Ende des Gesprächs. »Ich muss unbedingt Amanda finden«, sagt sie und wischt sich die Tränen weg. »Ich muss sie finden. Die bringen sie sonst um.«
    »Hier, putz dir mal die Nase«, sagt Toby und reicht ihr einen rosa Waschlappen. »Amanda ist sehr schlau.« Am besten spricht man von Amanda, als wäre sie noch am Leben. »Sie kennt jede Menge Tricks. Sie wird sich schon durchschlagen.« Fast hätte sie gesagt, dass Frauen Mangelware seien, dass Amanda also sicherlich verschont und rationiert würde, besinnt sich aber eines Besseren.
    »Du verstehst das nicht«, sagt Ren und schluchzt noch lauter. »Die sind zu dritt, das sind Painballer − das sind keine Menschen mehr. Ich muss sie finden.«
    »Wir werden sie suchen«, sagt Toby, um sie zu beruhigen. »Aber wir wissen doch gar nicht, wohin sie − wohin Amanda gegangen ist.«
    »Wo würdest du denn hingehen?«, fragt Ren. »An ihrer Stelle?« »Nach Osten vielleicht«, sagt Toby. »Ans Meer. Wo man angeln kann.«
    »Dann lass uns los.«
    »Sobald du zu Kräften gekommen bist«, sagt Toby. Sie müssen ohnehin umziehen: Die Lebensmittelvorräte schwinden zusehends. »Ich bin schon bei Kräften«, sagt Ren.
    *
    Toby sucht noch einmal den Garten ab, fördert noch eine einsame Zwiebel zutage. Sie gräbt drei Kletten vom nahen Rand der Wiese aus und etwas wilde Möhre − die dürren weißen Urkarottenwurzeln. »Glaubst du, du könntest Kaninchenfleisch essen?«, fragt sie Ren. »Wenn ich es in ganz kleine Stückchen schneide und eine Suppe daraus koche?«
    »Ich glaub schon«, sagt Ren. »Ich versuch’s.«
    Toby ist selbst kurz davor, den Schalter umzulegen und zum überzeugten Fleischesser zu werden. Der Schuss könnte lärmtechnisch ein Problem sein, aber falls tatsächlich noch Painballer im Wald lauern sollten, wissen sie ohnehin, dass sie bewaffnet ist. Eine kleine Erinnerung kann nicht schaden.
    Die grünen Kaninchen halten sich oft in der Nähe des Swimmingpools auf. Vom Dach aus schießt Toby auf eins, aber offenbar zielt sie daneben. Ist es das schlechte Gewissen, das ihre Treffsicherheit beeinträchtigt?

Weitere Kostenlose Bücher