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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Gottesgärtner

 
    68.
Ren. Sankt Chico Mendes, Märtyrer, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Wir laufen über die schimmernde Wiese. Es summt wie tausend winzige Vibratoren; überall schweben riesige rosa Schmetterlinge. Es duftet intensiv nach Klee. Toby prüft mit dem Stiel des Wischmopps die Erde vor sich. Ich versuche, meine Füße vorsichtig aufzusetzen, aber der Boden ist holprig, und ich stolpere, und als ich nach unten schaue, liegt da ein Stiefel. Käfer huschen aus dem Schaft.
    Vor uns sind Tiere. Gerade waren sie da noch nicht. Ich frage mich, ob sie im Gras lagen und dann aufgestanden sind. Ich weiche zurück, aber Toby sagt: »Keine Angst, das sind nur Mo’Hairschafe.«
    Ich hab noch nie ein Mo’Hairschaf in echt gesehen, immer nur online. Sie stehen da, gucken uns an und schieben den Unterkiefer hin und her. »Meinst du, die lassen sich streicheln?«, frage ich. Sie sind blau, rosa, silbern und lila; sie sehen aus wie Süßigkeiten oder Wolken an einem Sonnentag. So fröhlich und friedlich.
    »Glaube ich kaum«, sagt Toby. »Wir müssen schneller gehen.«
    »Sie haben keine Angst vor uns«, sage ich.
    »Sollten sie aber«, sagt Toby. »Komm jetzt. Lass uns weiter.«
    Die Mo’Hairschafe beobachten uns. Als wir näher kommen, drehen sie sich geschlossen um und ziehen langsam davon.
    *
    Erst sagt Toby, dass wir zum östlichen Pförtnerhaus gehen. Nachdem wir aber eine Weile über die asphaltierte Straße gelaufen sind, sagt sie, es sei doch weiter, als sie dachte. Mir wird langsam schwindlig wegen der Hitze, vor allem in meinem UV-Mantel, und so bestimmt Toby, dass wir jetzt in den Wald gehen, der gleich hinter der Wiese anfängt, da ist es kühler. Ich mag den Wald nicht; da ist es mir zu dunkel, aber draußen auf der Wiese können wir nicht bleiben, das ist mir klar.
    Im Wald ist es zwar schattiger, aber nicht kühler. Es ist feucht, und es weht keine Brise, und die Luft ist zum Schneiden dick, als wäre da noch mehr Luft reingestopft als in die normale Luft. Aber wenigstens sind wir aus der Sonne raus, wir ziehen unsere UV-Mäntel aus und gehen den Waldweg entlang. Es riecht ganz intensiv nach modrigem Holz, es ist derselbe pilzige Geruch, den ich noch von den Gärtnern kenne, von unseren Parkausflügen an Sankt Euell. Die Ranken wachsen schon bis über den Kies, aber viele der Zweige sind abgeknickt und zertrampelt, und Toby sagt, hier sei jemand entlanggegangen; aber nicht heute, denn die Blätter sind verwelkt.
    Vor uns sind Krähen und machen Lärm.
    Wir kommen an einen Bach, über den eine kleine Brücke führt. Das Wasser fließt kräuselnd über die Kiesel, und ich kann kleine Fische sehen. Am anderen Ufer sieht es aus, als hätte jemand gegraben. Toby bleibt stehen, wendet den Kopf und horcht. Dann geht sie über die Brücke und schaut sich das Loch an. »Ein Gärtner«, sagt sie, »oder jemand, der sich auskennt.«
    Die Gärtner hatten uns beigebracht, dass man niemals aus einem Bach trinken darf, vor allem nicht in der Nähe einer Stadt: Man muss ein Loch neben dem Bach graben, damit das Wasser wenigstens ein bisschen gefiltert wird. Toby hat eine leere Flasche, nämlich die, aus der wir getrunken haben. Sie füllt sie in dem Wasserloch so auf, dass nur die oberste Schicht Wasser in die Flasche läuft: Sie will keine ertrunkenen Würmer in der Flasche haben.
    Vor uns auf einer kleinen Lichtung wachsen Pilze. Hydnum repandum, sagt Toby, Semmelpilz, früher war das eine Herbstsorte, als wir noch einen Herbst hatten. Wir pflücken sie, und Toby steckt sie in eine der mitgebrachten Stofftaschen, die sie an den Rucksack hängt, damit die Pilze nicht zerquetscht werden. Dann gehen wir weiter.
    Wir riechen es, noch bevor wir es sehen. »Nicht schreien«, sagt Toby.
    Deswegen haben die Krähen diesen Aufstand gemacht. »Oh nein«, flüstere ich.
    Es ist Oates. Er hängt von einem Baum, er dreht sich langsam hin und her. Das Seil führt unter seinen Achseln her und ist im Rücken zusammengeknotet. Er hat nichts an bis auf Socken und Schuhe. Das macht die Sache noch schlimmer, weil er so weniger wie eine Statue aussieht. Sein Kopf ist zurückgeworfen, zu weit zurück, denn man hat ihm die Kehle durchgeschnitten; Krähen umflattern seinen Kopf, versuchen, irgendwo Fuß zu fassen. Seine blonden Haare sind ganz verfilzt. Eine offene Wunde klafft an seinem Rücken, genau wie bei den Leichen, die früher immer mit geklauten Nieren auf den leeren Grundstücken abgeladen wurden. Aber diese Nieren sind bestimmt

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