Das Jahr der Flut
befühlt sie Rens Stirn. Kühler? Es muss irgendwo im Haus ein Thermometer geben; morgen früh wird sie sich auf die Suche machen. Sie fühlt Rens Puls: schnell, unregelmäßig.
Dann nickt sie in ihrem Stuhl ein, und als sie erwacht, ist es dunkel und riecht versengt. Sie knipst ihre Taschenlampe an: Die Kerze ist umgefallen und der Rand von Rens rosa Laken schmort vor sich hin. Zum Glück ist das Laken feucht.
Dümmer geht’s nicht, sagt Toby zu sich. Von nun an keine Kerzen mehr, es sei denn, ich bin hellwach.
65.
Toby. Sankt Mahatma Gandhi, Jahr Fünfundzwanzig
Am Morgen fühlt Ren sich kühler an. Ihr Puls schlägt stärker, sie kann sogar die Tasse abgekochtes Wasser in ihren eigenen zitternden Händen halten. Heute Morgen hat Toby zusätzlich zu Honig und Salz ein wenig Pfefferminz hineingegeben.
Als Ren wieder eingeschlafen ist, trägt Toby die schmutzigen Laken und Handtücher aufs Dach, um sie zu waschen. Sie hat ihr Fernglas dabei, und während Laken und Handtücher einweichen, überprüft sie das Spa-Gelände.
Schweine, weit hinten in der südwestlichen Ecke der Wiese. Zwei Mo’Hairschafe, ein blaues und ein silbernes, friedlich Seite an Seite grasend. Keine Löwämmer. Irgendwo bellen Hunde. Geier flattern über der Schweinegrabstätte.
»Verschwindet da, ihr Archäologen«, sagt Toby. Sie fühlt sich benommen, fast schwindlig − sie ist in der Stimmung, sich Witze zu erzählen. Drei riesige Schmetterlinge kreisen über ihrem Kopf, lassen sich auf den feuchten Laken nieder. Vielleicht denken sie, sie hätten den größten Schmetterling von allen gefunden. Vielleicht ist es eine Liebesaffäre. Jetzt haben sie ihre schmalen Zungen entrollt und lecken daran. Also doch keine Liebe: nur Salz. Manch einer wird euch weismachen wollen, die Liebe sei nichts als Chemie, liebe Freunde, sagte Adam Eins. Natürlich ist die Liebe auch Chemie: Wo wären wir alle ohne Chemie? Doch die Naturwissenschaft ist nur eine Möglichkeit, die Welt zu beschreiben. Genauso gut könnte man fragen: Wo wären wir alle ohne die Liebe?
Der gute Adam Eins, denkt Toby. Er ist bestimmt tot. Und Zeb − auch tot bei allem Wunschdenken. Aber vielleicht ja auch nicht; denn wenn ich am Leben bin − und vor allem, wenn Ren am Leben ist −, könnte jeder andere genauso gut noch am Leben sein.
Ihr Aufziehradio hatte sie schon vor Monaten aufgegeben, weil das Schweigen so deprimierend war. Aber nur weil niemand zu hören war, muss es nicht heißen, dass niemand mehr da ist. Übrigens laut Adam Eins ein hypothetischer Beweis für die Existenz Gottes.
*
Toby wäscht Rens infiziertes Bein, behandelt es erneut mit Honig. Ren isst ein wenig, trinkt ein wenig. Noch etwas Pilzelixier und etwas Weide. Nach langem Herumstöbern findet Toby einen Verbandskasten, darin eine antibakterielle Salbe, aber ihr Verfallsdatum ist abgelaufen. Ein Thermometer fehlt. Wer hat dieses Mistding bestellt?, denkt sie. Ach ja. Das war ja ich. Na ja, Maden sind ohnehin das Beste.
Am Nachmittag nimmt sie die Maden aus dem Plastikbehälter, spült sie mit lauwarmem Wasser ab. Dann schlägt sie sie in ein Stück Mull aus dem Verbandskasten und klebt den mit Maden gefüllten Umschlag auf die Wunde. Es wird nicht lange dauern, bis sich die Maden durch den Verband gefressen haben: Sie wissen eben, was gut ist.
»Das kribbelt jetzt ein bisschen«, sagt sie zu Ren, »aber danach wird’s dir bessergehen. Versuch, dein Bein still zu halten.«
»Was ist das?«, fragt Ren.
»Es sind deine Freunde«, sagt Toby. »Aber du brauchst nicht hinzuschauen.«
Ihre Mordgedanken vom gestrigen Abend haben sich in Luft aufgelöst: Sie wird keine tote Ren auf die Wiese schleppen und den Schweinen und Geiern zum Fraß vorwerfen. Jetzt will sie sie heilen, sie auf Händen tragen, denn ist es nicht ein Wunder, dass Ren hier ist? Dass sie die wasserlose Flut unbeschadet überstanden hat? Oder relativ unbeschadet. Dass jetzt noch ein anderer Mensch hier ist − und sei es ein Mensch, der geschwächt ist, ein Mensch, der die meiste Zeit schläft −, macht das Spa fast schon zum gemütlichen Heim anstatt zum Geisterhaus.
In dem ich der Geist war, denkt Toby.
66.
Toby. Sankt Henri Fabre, Sankt Anna Atkins, Sankt Tim Flannery, Sankt Ichida-San, Sankt David Suzuki, Sankt Peter Matthiessen, Jahr Fünfundzwanzig
Die Maden brauchen drei Tage, um die Wunde zu reinigen. Toby hat ständig ein Auge darauf: Geht ihnen das tote Gewebe aus, machen sie sich über das lebende
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