Die Gauklerin von Kaltenberg
1
Hofmark Kaltenberg, Baiern,
Anfang September Anno Domini 1315
»Anna!« Die Stimme des Dorfschmieds überschlug sich vor Wut. Bier und halbzerkaute Bilsenkrautsamen spritzten von seinen Lip pen, als er brüllte: »Du gehorchst, oder du wirst es bereuen!«
Seine Tochter Anna war aufgesprungen. Entschlossen raffte sie das knöchellange Wollkleid und warf die rote Lockenmähne zu rück. Also deshalb hatte der Vater das Bierfass angezapft: um ihr die frohe Botschaft zu verkünden, dass er sie seinem Gesellen Kilian versprochen hatte! Mit zitternden Lippen, aber hoch aufgerichtet hielt das zarte Mädchen seinem Vater stand. Die Bundhaube, de ren Bänder seitlich von den eiterverklebten Lidern herabfielen, ließ sein Gesicht noch grober erscheinen. Sie wusste, wie wuchtig seine abgearbeiteten Fäuste zuschlagen konnten. Das letzte Mal hatte sie drei Tage nicht arbeiten können.
»Darauf kannst du bis zum Jüngsten Gericht warten!« Ihr ange borener Hitzkopf brach sich Bahn, und sie schrie: »Ich bin deine Tochter, nicht deine Leibeigene!« Abrupt ließ sie ihn stehen und lief quer durch den einzigen Raum der Kate zum Ausgang. Ga ckernd brachten sich ein paar Hühner in Sicherheit. Dann war sie die hölzerne Treppe hinauf. Zorn oder der beißende Qualm des Herdfeuers hatten ihr Tränen in die Augen getrieben.
»Du wirst beim fahrenden Volk enden!«, dröhnte die Stimme des Vaters. »Hörst du? Auf den Märkten wirst du mit den Bratenfiedlern tanzen müssen. Schänden werden sie dich und dir schließlich in einer Seitengasse die Gurgel durchschneiden.« Wutent branntwollte er ihr nachlaufen, aber die tiefstehende Sonne blendete ihn. Er übersah einen Ast, den der Apfelbaum auf der Höhe seiner Stirn ausstreckte. Dumpf schlug er dagegen und fluchte: »Kruzifixhalleluja!«
Hinter ihm kam sein künftiger Schwiegersohn aus dem Haus. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über die Mundwinkel und wischte die Reste der Mehlsuppe am Kittel ab. »Die kann es ja kaum erwarten«, bemerkte er trocken.
Annas Bruder Martin schob den muskulösen Riesen beiseite und lief seiner Schwester nach. Trotz seiner langen Beine musste er sich anstrengen: Schnell wie ein Wiesel steuerte sie auf die Streuobstwiesen hinter der Burgsiedlung zu. Erst am Ende der langgezogenen Straße holte er sie ein.
»Vater macht sich Sorgen um dich«, redete Martin auf sie ein. »Nun komm zurück, du hast heute noch kaum etwas gegessen!«
Seine Worte erinnerten sie daran, dass es außer der Abendsuppe so gut wie keine Mahlzeit gab, die den Namen verdiente. Wieder bohrte der allgegenwärtige Hunger in ihrem Bauch.
»Du weißt, dass ich nicht ungehorsam bin«, sagte sie entschie den. »Als der Vater krank war, habe ich in der Schmiede geschuf tet wie ein Mann.«
»Gehorsam würde ich dich aber auch nicht nennen«, lachte Martin. »Letztes Jahr, als wir den Wolf im Schafpferch hatten, bist du mit einem Schwert aus der Schmiede auf ihn los. Ein Mädchen mit einer Waffe, das ist vollkommen närrisch! Und erst letzte Wo che hat dich die Mutter wieder bei den fahrenden Spielleuten er wischt.«
Ein Lächeln zuckte um Annas Lippen, als sie an die Gaukler mit ihren phantastischen Geschichten dachte: von fernen Län dern, großen Höfen und magischen Flüchen. Für ihre Mutter wa ren sie Strolche, aber Anna liebte es, ihnen zuzuhören. Bei den warmen Flötenklängen vergaß sie den Hunger und fühlte sich ge borgen.
Martinlegte den Arm um sie, und Anna genoss seine Wärme. Von Kindheit an – vielleicht seit fünfzehn Jahren, aber sie konnte ohnehin nicht zählen – war sie zu ihm gekommen, wenn sie et was bedrückte. »Du sollst heiraten, nicht gehängt werden«, ver suchte er sie zu trösten.
Anna stöhnte. »Ist da ein Unterschied?« Lebhaft sah sie zu ih rem Bruder auf. »Sibylle ist auch schon davongelaufen. Mit dem jüdischen Goldschmied, der im Sommer hier durchgereist ist. Und sie hatte recht. Eher tanze ich auf dem Marktplatz als nach der Pfeife von Kilian!«
Martin lachte laut. Die zarte Haut und das schmale Gesicht ver liehen Anna etwas Zerbrechliches. Aber die entschlossenen Lip pen und die starken, geschwungenen Brauen über den tiefblauen Augen verrieten, dass sie ihren Willen durchsetzen konnte. Mehr als ein junger Mann hatte schon erfahren müssen, dass Anna kräf tig zuschlagen konnte, wenn man sie gegen ihren Willen anfasste. »Manchmal glaube ich, dass an dem Gerücht doch etwas dran ist«, grinste Martin. »Dass sich unsere Mutter von
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