Das Jahr der Kraniche - Roman
auf einem Pferd sitzen würde. Sie sah Jans stolzes Vatergesicht vor sich. Wie war sie nur darauf gekommen, dass sie ihm nichts von dem Kind erzählen wollte? Was hatte sie sich denn vorgestellt? Dass sie einfach abhauen wollte, ohne ihm etwas davon mitzuteilen? Dass sie irgendwo ihr Kind allein aufziehen würde? Dass sie dem Kind nicht sagen würde, wer sein Vater war?
Das müssen wirklich die Hormone sein.
Natürlich würde sie Jan, sobald sie zu Hause war, erzählen, dass er Vater würde. Er würde ganz aus dem Häuschen sein vor Freude. Er würde eine Flasche Champagner aufmachen. Sie würde sagen, dass sie in den nächsten Monaten keinen Alkohol trinken würde. Dann würde er ihr eine Apfelsaftschorle bringen, und sie würden auf ihre Zukunft anstoßen. Und sie würde ihn niemals mehr nach Julia fragen.
Ihre Mutter hatte doch recht: Vergangenes sollte vergangen sein. Sie würde es nicht mehr zulassen, dass die alten Geschichten ihre Gegenwart trübten.
Die Schatten den Blätter tanzten auf dem sandigen Weg, den sie entlangritt. Im Wald war es merklich kühler als draußen auf der Wiese. Flora ging aufmerksam den Weg entlang, gefolgt von Shadow, der immer wieder in der Tiefe des Waldes verschwand, aber auch schnell wieder auftauchte und sich an Floras Seite setzte.
Plötzlich blieb Flora stocksteif stehen, so als hätte sie vor etwas Angst.
»Was ist denn, Süße? Wieso willst du nicht weiter?«
Sie versuchte, in dem flirrenden Halbschatten, der vor ihr lag, zu erkennen, was Flora beunruhigte. Möglicherweise ein Baumstamm, der quer über dem Weg lag. Oder vielleicht auch ein Wanderer, der hier Pilze suchte. Das Pferd ließ sich weder durch gutes Zureden noch durch einen Schenkeldruck dazu bewegen weiterzugehen. Laura sprang schließlich ab, nahm die Zügel in die Hand und wollte Flora führen. Doch auch jetzt blieb das Pferd wie angewurzelt auf dem Weg stehen. Shadow, der sich eng an Laura drängte, als würde Floras Unruhe auch auf ihn übergehen, gab einen leisen, fiependen Ton von sich.
»Spinnt ihr jetzt alle beide? Da ist nichts. Jetzt los, ihr Memmen, weiter geht ’ s.«
Sie verstärkte den Zug auf Floras Zügel. Das Pferd machte endlich einen zögernden Schritt weiter. Mit viel gutem Zureden gelang es Laura, die Stute hinter sich herzuziehen.
Und da sah sie es. Im Graben, der neben dem Weg herführte, lag jemand. Laura stockte das Herz. Sie überwand ihren Schrecken sofort, rannte zu der Gestalt und erkannte sie sofort.
»Jette! Um Gottes willen, was machen Sie denn hier?«
Die alte Frau lag mit geschlossenen Augen am Wegrand, die Beine im Graben. Laura beugte sich über sie.
»Jette, was ist denn? Jette! Hören Sie mich?«
Sie riss das Handy heraus. Marius musste sofort kommen.
»Ob sie noch lebt? Ja, ich glaube schon. Doch… ihre Brust bewegt sich. Aber sie erkennt mich nicht.«
Marius versprach, sofort zu kommen. Laura setzte sich zu Jette. Sie machte ihr T-Shirt im Graben nass und betupfte damit Jettes kreideweiße Stirn.
Du warst so blass. Du warst so schrecklich blass.
Jettes Stimme dröhnte ihr in den Ohren. Sie durfte nicht sterben.
»Marius kommt gleich. Doktor Berg, den kennen Sie doch. Bitte, Jette, halten Sie durch.«
Als sie ihr T-Shirt zum zweiten Mal nass machte, hörte sie die Stimme hinter sich.
»Da bist du ja, Laura.«
Sie drehte sich um. Fassungslos sah sie in die wasserblauen Augen der alten Frau.
»Was machen Sie bloß für Sachen, Jette? Sie haben mir einen ganz schönen Schreck eingejagt.«
»Du darfst nicht allein in den Wald gehen, Laura. Gefährlich… viel zu gefährlich… der Sumpf…«
Jette keuchte vor Anstrengung. Sie klammerte sich an Lauras Arm fest und versuchte, sich aufzusetzen.
»Nicht in den Wald, Laura. Nicht…«
»Bitte, Sie dürfen sich nicht so anstrengen. Doktor Berg wird gleich da sein.« Sie half der alten Frau, sich aufzusetzen und an einen Baum zu lehnen. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. »Was machen Sie hier denn so allein? Sie sind doch nicht den ganzen Weg hierhergelaufen?«
Jette schloss die Augen. Ihre kleine Hand ließ Lauras Hand nicht los. Dass so eine zarte Person so eine Kraft hat! Laura sah, wie ihre mageren Knöchel vor Anstrengung weiß wurden.
»Mike wird sich Sorgen machen. Sie dürfen doch nicht so allein herumgehen.«
Jette nickte. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
»Guter Junge, der Mike. Aber er glaubt mir nicht, Laura.« Sie öffnete die Augen und sah Laura verschmitzt an. »Er glaubt,
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