Das Jahr der Kraniche - Roman
dass ich verrückt bin. Bin ich aber nicht. Ich bin Jette Politschek. Ich wohne im Josefsheim in Templin. Ich bin sechsundachtzig Jahre alt. Früher war ich die beste Gärtnerin in der Uckermark.«
Laura nickte. Mit der Hand, die Jette nicht umklammert hielt, streichelte sie über deren Arm. Es war erstaunlich, wie klar die alte Frau war. Nichts deutete darauf hin, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte.
»Und du bist Laura, die Frau von Jan Plathe. Du bist gut für ihn. Du musst bei ihm bleiben. Aber du musst auf dich aufpassen. Ich muss auf dich aufpassen.«
Sie seufzte tief auf. Ihr Kopf fiel zur Seite. Laura erschrak.
»Jette. Wachen Sie auf! Jette!«
Sie tastete nach dem Puls der alten Frau, doch sie fand ihn nicht. Das war doch nicht möglich. Sie konnte doch jetzt nicht sterben.
»Jette, bitte! Bitte wachen Sie auf, Jette!«
Sie legte die Frau behutsam auf den Boden, fing mit einer Herzmassage an. Als Krankenschwester wusste sie genau, was zu tun war. Druck auf den Brustkasten, fünfmal, dann Mund-zu-Nase-Beatmung, und wieder Druck auf den Brustkasten.
Der Krankenwagen kam mit Blaulicht den Sandweg entlang. Marius und ein Notarzt sprangen heraus. Laura konnte nur noch beklommen sehen, wie sie die Notfallmaßnahmen koordinierten und Jette schließlich in den Krankenwagen packten.
Marius fuhr nicht mit dem Notarztwagen zurück. Er hatte gesehen, wie aufgewühlt Laura war.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«
Sie nickte, und wieder einmal konnte sie die Tränen nicht zurückhalten.
»Wird sie durchkommen?«
»Ich hoffe es. Allerdings, wenn es wieder ein Schlaganfall war… Was hat sie eigentlich hier gemacht? War denn niemand aus dem Heim bei ihr?«
»Ich glaube, sie hat mich gesucht.«
Jette hatte nach Laura gesucht? Aber wieso? Marius hatte nicht einmal gewusst, dass die beiden sich kannten.
»Weißt du, was sehr komisch ist? Am Anfang hat sie mich immer für Julia gehalten. Sie hat sich so gefreut, sie zu sehen. Hat immer gesagt, dass sie ihr nicht hatte helfen können. Und heute… hat sie mich zum ersten Mal mit meinem Namen angeredet. Sie hat gesagt, dass ich auf mich aufpassen soll.«
»Na ja, da hat sie durchaus recht. Jede schwangere Frau muss auf sich aufpassen.«
»Sie wusste doch nicht, dass ich schwanger bin. Sie hat es einfach so gesagt. Pass auf dich auf, Laura. Pass auf dich auf.« Es wurde ihr, trotz der Schwüle, die jetzt über dem Wald lag, plötzlich kalt. »Ich möchte wissen, warum sie so eine Angst um mich hat.«
»Vermutlich hat das gar nichts zu bedeuten. Leute in ihrem Alter und mit ihrer Krankheitsgeschichte leiden gern mal an Verfolgungswahn. Ich kenne das. Sie denken, alle wollen ihnen Böses. Die einen denken, ihre Kinder wollen an ihr Geld, die anderen denken, der Nachbar will sie umbringen.«
»Aber sie hat keine Angst um sich. Sie hat Angst um mich.«
In diesem Moment krachte ein Donner über ihnen, und der Himmel öffnete seine Schleusen. Sie waren in null Komma nichts bis auf die Haut durchnässt. Und plötzlich lachte Laura laut auf.
»Was für ein irrer Tag.«
Die Spannung, die in der Luft gelegen hatte, war mit einem Mal verschwunden. Sie machten, dass sie aus dem Wald kamen, während die Blitze über ihnen den schwarzblauen Himmel zerrissen.
»Hier, der Graben. Lass uns hier das Schlimmste abwarten.«
Nass waren sie ja schon. Und da sich weit und breit kein sicherer Unterschlupf bot, zwangen sie das widerstrebende Pferd in den tiefen Graben und kauerten sich, zusammen mit Shadow, eng aneinander, um den Blitzen, die jetzt im Sekundentakt über den Himmel schossen, keine Angriffsfläche zu bieten.
Elke liebte es, nach dem Gewitter durch den Wald zu gehen. Der Boden dampfte vor Nässe. Von den Bäumen tropften silberne Wasserperlen. Aus den kleinen Tümpeln, die das Moor bildete, stiegen dünne Nebelschwaden auf. Es roch nach Moos und feuchtem Sand. Der typische Sommergeruch in der Uckermark. Als sie Flora vor ihrem Haus stehen sah, war sie erstaunt. Was machte Lauras Pferd hier?
Sie hörte durch das geöffnete Fenster ein helles Lachen.
»Und du bist sicher, dass Elke nichts dagegen hat, dass ich das anziehe?«
Sie sah Laura in ihrem Wohnzimmer stehen. Ihr Oberkörper war nackt. Eine weiße Bluse kam angeflogen, die sie geschickt auffing und in die sie schnell hineinschlüpfte.
»Ich würde sagen, das steht dir deutlich besser als Elke. Ihr war das Ding schon immer viel zu weit.«
Laura lachte auf und knöpfte sich die Bluse zu. Sie passte ihr wie
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