Das Jahr der Kraniche - Roman
sämtlichen Kleinigkeiten, die davon erzählten, was für einen verspielten Blick Laura auf das Leben hatte. Sie hatte ihn prüfend beobachtet, als sie einen Tag lang all ihre Habseligkeiten in Kisten gepackt hatten. Immer darauf wartend, dass sich um seinen Mund ein amüsiertes Lächeln einstellen würde, in seinen Augen der Spott des Älteren, Lebenserfahrenen, der insgeheim davon ausging, dass ihre Siebensachen für immer im Dunkel der Umzugskartons schlummern würden. Doch nichts dergleichen war geschehen. Sie hatten die Wohnung leer geräumt, und wenn nicht etwas wirklich Schreckliches dazwischenkam, würden die Kartons in den nächsten Tagen in Jans Haus ankommen.
Vielleicht hätte ich ja doch alles in München lassen sollen, statt mein neues Leben mit dem Kram aus der Vergangenheit zu beschweren.
Ach, es war doch egal. Sie würde sich erst einmal umsehen an dem Ort, der ihr fortan Heim und Heimat sein sollte. Und eventuell würde sie all ihre alten Sachen einfach in den Kisten lassen oder irgendwo unterstellen. Und dann vielleicht irgendwann vergessen. Sie war nicht mehr das Mädchen Laura, sondern Jans Ehefrau. Ein neues, anderes, aufregendes Leben lag vor ihr, auf das sie sich freute und in dem sie glücklich werden würde.
Ein wettergebleichtes altes Holzschild zeigte nach rechts.
Die Schrift, die auf das Jägerhaus hinwies, war kaum mehr zu entziffern. Jan bog sacht in den kaum mehr als einen Meter breiten Weg ein. Brombeerzweige rankten weit in die Fahrspur. Sie machten ein kratzendes Geräusch auf dem Lack, schlugen wie Peitschen gegen die Windschutzscheibe. Jan fuhr langsam den sandigen Weg entlang, darauf bedacht, den tiefen Schlaglöchern ebenso auszuweichen wie den aufdringlichen Brombeerzweigen.
Wahrscheinlich landen wir gleich vor einer Mauer aus Rosen, die mein tapferer Ritter erst mal durchtrennen muss, bevor er mich in sein Schloss trägt.
Laura setzte sich aufrecht hin, den Blick gespannt auf den schmalen Weg gerichtet. Jetzt mussten sie doch jeden Moment da sein. Ihr Herz klopfte ihr nun doch bis zum Hals. Es musste ihr gefallen. Jans Haus musste ihr einfach gefallen. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun würde, falls das nicht der Fall war. Fest entschlossen, sich ein eventuelles Entsetzen nicht anmerken zu lassen, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Noch eine Kurve. Noch eine. Jan wurde immer langsamer.
»Bist du bereit?«
Sie räusperte sich, brachte dann aber doch nur ein Nicken zustande.
Bitte, lieber Gott, mach, dass es herrlich ist.
» Gut. Aber du weißt es, Laura: Wenn es dir nicht gefällt– du musst nicht lügen. Wenn dir mein Haus nicht gefällt, werden wir auf der Stelle umdrehen und uns etwas anderes suchen. Du musst nicht hierbleiben, nur weil es der Ort ist, an dem ich aufgewachsen bin.«
»Langsam machst du mir wirklich Angst.«
Sie versuchte ein Lachen. Er würde sie doch nicht in so ein altes Stasihaus bringen, in dem der Geruch der DDR -Schrecken noch in den Wänden hing? Er hatte doch gesagt, dass seine Familie seit Generationen in diesem Haus gelebt hatte. Es konnte doch überhaupt nicht schrecklich sein.
Fahr endlich weiter. Lass es uns hinter uns bringen.
Als Jan wieder anfuhr, gab er unversehens zu viel Gas, sodass die Reifen im Sand kurz durchdrehten und der Motor aufheulte. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, war er doch fast so nervös wie Laura. Zehn Jahre lang war er nicht hier gewesen. Plötzlich wusste er nicht, was der Anblick seines Hauses mit ihm machen würde. War es wirklich richtig, hierher zurückzukommen? Würde er das Licht und die Liebe, die so viele Jahre zu diesem Haus gehört hatten, tatsächlich wiederfinden können. Oder…?
Egal, jetzt war er so weit gekommen, da gab es kein Zurück mehr. Er musste sich seinen Erinnerungen stellen. Den guten wie den schlechten. Nur so würde er mit Laura eine Zukunft haben können.
Er bemerkte nicht, dass Laura unwillkürlich die Augen schloss, als er um die letzte Kurve bog. Es war ihm auch nicht bewusst, dass er den Atem anhielt, als sein Elternhaus in Sicht kam. Aber er spürte augenblicklich, wie seine Anspannung nachließ, als er die dunklen Schindeln sah, die die letzten Sonnenstrahlen aufleuchten ließen. Ein tiefes Gefühl der Erleichterung sprang in sein Herz, ein Gefühl der Dankbarkeit, des Zuhause-Seins. Ein Gefühl des Endes und des Anfangs.
Wieso sagt sie nichts? Hat ihr der Anblick die Sprache verschlagen? Kann sie mir nicht sagen, dass sie es fürchterlich
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