Das Jahr der Kraniche - Roman
findet?
Als er sich zu Laura drehte, sah er, dass sie immer noch mit geschlossenen Augen dasaß. Dieses Kind! Er nahm ihre Hand, drückte einen leichten Kuss darauf.
»Willst du die Augen öffnen, oder sollen wir gleich wieder umdrehen?«
Sie zögerte.
Lieber Gott, hilf.
Zaghaft öffnete sie die Augen, blinzelte durch die Wimpern. Und dann riss sie nicht nur die Augen auf. Sie sprang aus dem Auto, ging ein paar Schritte auf das Haus zu, blieb abrupt stehen und starrte es an.
Danke, lieber Gott. Danke, danke, danke.
Es war ihr, als würden alle Nerven, die gerade noch so gespannt waren wie Violinsaiten, jetzt gleichzeitig einen stummen Jubelschrei zu jeder Faser ihres Körpers übertragen.
Dieses Haus war der Wahnsinn. Ein veritables Dornröschenschloss, wunderschön. Einladend mit den weit geöffneten Fenstern, stand es in einem gepflegten Garten und schien nur darauf zu warten, dass sie es in Besitz nahm. Mein Haus, schrie es in ihr.
»Sag was, Laura. Bitte.«
Jan stand jetzt neben ihr. Ihr Schweigen jagte ihm einen tiefen Schrecken ein. Sie fand es bestimmt furchtbar, vielleicht sogar Furcht erregend, wollte nichts wie weg. Sie würde keinen Schritt hineintun. Anders konnte es doch nicht sein. Sonst hätte sie doch etwas gesagt. Aber sie stand stumm da. Stumm und still wie eine Statue.
»Könntest du mich vielleicht endlich über die Schwelle tragen?«
Ihre Stimme war heiser. Jan verstand sie nicht gleich. Was hatte sie gesagt? Hatte er es richtig verstanden?
Sie sah ihm ins Gesicht. Strahlend.
»Du sollst mich in unser Haus tragen. Das ist doch so der Brauch, wenn Eheleute ihr gemeinsames Leben beginnen wollen, oder?«
Ohne ein weiteres Wort hob er sie hoch. Sie legte den Arm um seinen Hals und schmiegte ihr Gesicht an seins. Er spürte ihr Gewicht kaum, als er die drei Stufen auf die Haustür zuging und den schweren alten Schlüssel aus der Tasche fummelte, in deren Futter er sich verhakt hatte.
Wie aufgeregt er ist. Wie süß. Wie lieb. Er hat genauso große Angst gehabt wie ich. Aber das war unnötig. Es ist alles gut. Alles, alles, alles.
Endlich hatte Jan den Schlüssel in der Hand. Er zitterte ein wenig, als er ihn in das eisenbeschlagene Türschloss steckte und umdrehte. Die doppelte Flügeltür, die ebenso wie die Fenster rot lackiert war, schwang weit nach innen auf.
»Okay, Frau Plathe. Herzlich willkommen im Jägerhaus.«
Er trug sie mit einem feierlichen Schritt über die altersschwarze Eichenschwelle.
»Und herzlich willkommen in unserem Leben.«
Nur einen kurzen Moment lang ließ Laura ihre Augen durch die großzügige Eingangshalle mit den dunklen Eichenbalken und der geschwungenen Treppe schweifen, dann wandte sie ihr Gesicht ihrem Ehemann zu und küsste ihn. Es war alles gut. Und es würde immer gut sein. Dieses Haus, das sein Haus war, würde auch ihr Haus werden. Sie hätte sich keinen wundervolleren Ort ausmalen können, an dem sie ihr Leben mit Jan verbringen wollte.
Die Lilien würden Jan gefallen.
»Lilien sind die einzigen Blumen, mit denen ich was anfangen kann. Alles andere ist doch irgendwie Kikikram.« Er hatte ihr, die an ihrem ersten Schultag kaum über den Tisch gucken konnte, einen dicken Strauß Lilien in die Arme gedrückt. Die Stiele der Blumen waren fast so lang wie das kleine zarte Mädchen, dessen bester Freund er vom Tag seiner Geburt an gewesen war.
»Lilien für eine Sechsjährige? Jan, du spinnst doch total«, hatte Hanno ihn damals ausgelacht und seiner Tochter auf der Stelle den unangemessenen Strauß abgenommen und in eine Bodenvase gestellt.
»Einem kleinen Mädchen schenkt man einen Veilchenstrauß. Oder Stiefmütterchen oder Vergissmeinnicht.«
»Denkst du, dass sie sich, wenn sie einmal alt ist, an Stiefmütterchen erinnern wird? Wohl kaum. Aber Elke wird nie vergessen, dass sie zum Schulanfang Lilien bekommen hat. Von ihrem besten Freund, den sie deswegen auch nicht vergessen wird. Nicht wahr, du süßestes Mädchen auf der Welt?«
Elke glaubte noch immer den festen Griff zu spüren, mit dem Jan sie gepackt und über seine Schulter geworfen hatte. Sie hatte gekreischt und geschrien, als er im Trab durch den Garten gelaufen war, hopsend, springend, wiehernd. Ihr bester, ihr allerbester Freund.
Er würde sich freuen, wenn sie ihm nun einen Lilienstrauß ins Haus stellte. Vielleicht würde es ihn an glückliche Zeiten erinnern. Vielleicht würde es ihm helfen, die dunklen Zeiten dort zu lassen, wo sie gut lagen: in der Vergessenheit.
Hanno
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