Das Jahr der Kraniche - Roman
groß bin, werde ich Jan heiraten.«
Das hatte für Elke festgestanden. Und Jan hatte die Kleine vergnügt an Armen und Beinen genommen und sie durch die Luft geschwenkt, bis sie keuchend um Gnade bat. Er hatte ihr versprochen, dass Elke seine große Liebe sei und es auch immer bleiben würde.
Doch es war anders gekommen. Natürlich war es anders gekommen; das Leben hält sich nicht an Kinderträume. Jan war nach dem Mauerfall zum Studieren nach München gegangen. Zwar war er, solange seine Eltern noch lebten, einmal im Monat gekommen, um sie zu besuchen. Doch der Kontakt zu seiner kleinen Freundin, die sich in dieser Zeit gerade in schwierigen Pubertätswellen befand, war nie mehr so innig und liebevoll geworden, wie er es zur Zeit ihrer Kindheit gewesen war.
Und als er schließlich mit wechselnden Freundinnen aufgetaucht war, hatte sich Elke regelmäßig geweigert, auch nur ein Wort mit ihnen zu sprechen. Sie war einfach abgehauen und erst wieder aufgetaucht, als Jan und seine Freundin wieder nach München abgefahren waren. Hanno erinnerte sich gut an die glühende Wut, mit der Elke Verwünschungen gegen Jan ausgespuckt hatte. Die Vierzehnjährige, die zu seiner großen Freude ein kluger, sehr hübscher Teenager geworden war, dem das Lernen nicht schwerfiel, hatte Jans Freundinnen alles Böse an den Hals gewünscht. Diese Münchner Flittchen würden Jan nur unglücklich machen. Dass er sich überhaupt auf solche Frauen eingelassen hatte, würde sie ihm nie verzeihen. Nie, nie, nie!
»Was will er denn hier? Meinst du, er will das Haus verkaufen?«
Hanno hatte sich das auch schon gefragt. Fast zehn Jahre lang hatte sich Jan hier nicht blicken lassen; dennoch war der Kontakt zu ihm nie abgebrochen. Er hatte Mails aus allen Teilen der Welt geschickt, in denen er arbeitete, und sich stets erkundigt, ob Hanno wohlauf war. Hin und wieder hatte er auch nachgefragt, ob es Elke und ihrem Mann Marius, mit dem sie seit mehr als zehn Jahren verheiratet war, gut ging, und ob mit dem Haus alles in Ordnung war. Von seiner Arbeit hatte er nur in kurzen Sätzen berichtet, aber Hanno hatte im Internet und in Architektur-Fachzeitschriften, die er sich hin und wieder besorgte, einiges über Jans Erfolge gelesen. Und er war heimlich stolz darauf gewesen, was für eine tolle Karriere der Junge gemacht hatte.
Die Jahre waren ins Land gegangen, und das Haus hatte weiterhin in seinem Dornröschenschlaf gelegen. Hin und wieder war jemand aufgetaucht, der sich erkundigt hatte, ob man es nicht kaufen könne. Doch wenn Hanno das Kaufinteresse an Jan weitergeleitet hatte, war jedes Mal umgehend die Nachricht gekommen, dass das Haus nicht zum Verkauf stand.
»Glaubst du, dass er vielleicht hierbleiben will?«
Elkes Blick lag forschend auf dem Gesicht ihres Vaters. Was wollte sie von ihm hören? Dass er es sich wünschte, dass Jan hier wieder wohnte? Dass er sich freuen würde, den Mann, mit dem ihn so viel verband, wieder in seiner Nähe zu wissen? Dass es immer gut sei, zu seinen Wurzeln zurückzukehren?
»Das Haus ist doch viel zu groß für einen allein.«
Elke gab sich die Antwort, bevor Hanno dazu kam, ihr zu sagen, dass er sich eigentlich nicht vorstellen konnte, dass ein viel beschäftigter Mann wie Jan, der noch dazu hauptsächlich im Ausland arbeitete, sich hierhin, in die Abgeschiedenheit der Uckermark, zurückziehen würde. Und natürlich, was sollte er allein in diesem großen Haus, in dem die Erinnerung ihn aus jeder Ecke anspringen würde? Er hatte sich innerlich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass Jan nur zurückkommen würde, um den Verkauf des Hauses zu betreiben. Was wirklich vernünftig gewesen wäre. Nicht nur, weil solche schönen Häuser in so herrlichen Lagen inzwischen sehr gutes Geld brachten. Es war doch auch eine Schande, dass es leer stand. Vielleicht würde ja eine Familie das Haus kaufen. Mit ein paar Kindern, die hier, wie Jan und Elke damals, eine glückliche, unbeschwerte Kindheit würden verleben können. Dass Hanno dann möglicherweise auch das kleine Verwalterhäuschen am Ende des Waldwegs, das er seit mehr als fünfzig Jahren bewohnte, würde verlassen müssen, war ein Wermutstropfen, der in seine Überlegungen fiel. Aber das war der Lauf der Dinge. Er würde etwas anderes finden auf seine alten Tage, vielleicht in der kleinen Stadt Templin, die nur zwanzig Kilometer entfernt lag und in der Elkes Mann seine Arztpraxis hatte. Natürlich würde es ihm schwerfallen, das Haus, in dem er Elke nach dem
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