Das Jahr der Kraniche - Roman
Jetzt wollte sie nur endlich ankommen an dem Ort, den ihr ein gütiges Schicksal offensichtlich bestimmt hatte.
Neugierig ließ Laura ihren Blick über die vorbeiziehende Landschaft schweifen. Der Wald war in der letzten halben Stunde immer dichter geworden, die Straße, auf der sie fuhren, immer schmaler. Schon seit einer Weile waren sie durch kein Dorf mehr gekommen und auch an keinem Haus mehr vorbei. Dass es derartig einsame Gegenden in Deutschland gab, hatte sie nicht geahnt. In Oberbayern, wo sie ihre Freizeit mit Radfahren und Schwimmen verbracht hatte, im Winter auch mit Skifahren, kam man ständig durch hübsch aufgerüschte kleine Dörfer, die alle aussahen, als hätten sie gerade bei einem Wettbewerb um das schönste Dorf mitgemacht. Überall sah man schöne Bauernhöfe, auf deren Weiden unzählige Kühe und Pferde standen, und selbst in den einsamsten Ecken fand sich ein Gasthaus, in dem durchaus auch der eine oder andere Sternekoch am Herd stand. Der viel besungene weißblaue Bayernhimmel hatte sich weit über die sanft gewellte Voralpenlandschaft gespannt. An manchen Tagen im Frühjahr und im Herbst hatte das Licht der tief stehenden Sonne eine fast mediterrane Stimmung gezaubert.
Es kann doch nicht sein, dass ich jetzt schon Heimweh habe.
»Du sagst ja gar nichts mehr, Kleine.« Jan griff nach ihrer Hand. »Und dein Händchen ist auch eiskalt.«
»Ach was.«
Sie zog die Hand aus der seinen und versteckte sie in der Achselhöhle.
»Hab ich dir nicht gesagt, dass ich immer kalte Hände habe? Das bedeutet gar nichts. Höchstens ein kleines Kreislaufproblem, wenn ich mich zu lange nicht bewege.«
Jans Blick lag forschend auf ihr.
»Ist es so, wie du es erwartet hast?«
»Viel schöner.«
Sie beeilte sich zu sagen, wie sehr es ihr hier gefiele. Dass sie ja keine Ahnung gehabt habe, wie wunderschön die Buchenwälder, selbst jetzt, da sie noch winterlich blattlos waren, hier seien. Und diese dunklen Seen, in deren Spiegel die weißen Wolken zu segeln schienen. Hier also war der kleine Jan damals auf seinem Pferd über die Wiesen gejagt. Hier hatte er im Herbst Drachen steigen lassen, war er im Winter auf den zugefrorenen Seen Schlittschuh gelaufen. Hierher war er nach seinem Architekturstudium zurückgekommen, hatte ein paar Jahre hier gearbeitet, bevor ihn seine Aufträge in die Ferne geführt hatten.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du hier glücklich gewesen bist. Ein kleiner, glücklicher Junge in zerschlissenen Hosen, der im Wald die tollsten Abenteuer erlebt hat.«
»Meine Hosen waren nie zerschlissen. Darauf hat meine Mutter schon geachtet. Aber mit den Abenteuern hast du recht. Es gibt keinen Fuchsbau, den ich nicht erforscht hätte, keinen See, in dem ich nicht nach Biberburgen gesucht, und keinen Apfelbaum, den ich nicht erklommen hätte.«
Jan zog sie an sich. Würden die Kinder, die er mit Laura haben wollte, genauso sorglos und glücklich aufwachsen können wie er? Würde es ihm gelingen, für sich und Laura einen Zipfel dieses vergangenen Glücks erhaschen zu können?
Das Einzige, was er mir nicht erzählt hat, ist, warum er von hier weggegangen ist. Wie es gekommen ist, dass er das alles hinter sich gelassen hat. Sein Haus, sein Büro, seine Freunde.
Tatsächlich hatte Jan ihr in den letzten Wochen hauptsächlich von seiner Zeit im Fernen Osten erzählt. Von den Hochhäusern, die er in Malaysia gebaut hatte und in Japan. Dem Hotel in Dubai, dem Opernhaus in Perth. Sie hatte alle Informationen über diesen Mann, der jetzt ihr Ehemann war, gierig in sich aufgesogen. Stundenlang hatten sie im Bett gelegen und die Fotos auf seinem iPad angesehen: Baustellen, Gebäude, die er gebaut hatte, tobende japanische Städte und einsame vietnamesische Strände. Sie hatte sich in die kühlen, strengen Einzelheiten seiner Bauten vertieft, über die Klarheit seiner Entwürfe gestaunt und sich gewundert, dass dieser Mann, dem Struktur und Einfachheit so wichtig waren, sich in ihrer winzigen, überladenen, vor Buntheit schreienden Wohnung, in die sie sich nach der Trennung von Thomas eingekuschelt hatte, so wohl fühlen konnte. Er hatte nicht einmal gezuckt, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie mindestens neunzig Prozent der Sachen, die sie in ihrer Wohnung um sich hortete, mitnehmen musste in ihr neues Leben. Angefangen bei ihrem Sesselmonster über die Wanduhr ihrer Oma, den großen Spiegel mit dem übertriebenen Goldrand bis hin zu ihrem Klavier, ihrem hellblauen Küchentisch und
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