Das Jahr der Kraniche - Roman
ausgelöst hatte. Die Scham und die Vorwürfe waren zu groß gewesen. Als er dann Julia in dieses Haus brachte, hatte er die Hoffnung gehabt, dass sie mit ihrer Jugend und ihrer Unbekümmertheit die Schatten, die hier noch immer umhergeisterten, vertreiben würde. Stattdessen war sie selbst zu einem der Schatten geworden.
Er schrak aus seinen Gedanken, als er den Schrei hörte. Er kam von der Insel. Hatte da nicht gerade jemand gerufen? Er lauschte angestrengt. Doch da war nichts. Er musste sich das eingebildet haben. Als in diesem Moment einige Kranichpaare vom Himmel stießen und auf der Insel landeten, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Da war wirklich ein Schrei gewesen, aber er kam nicht von Laura. Es war der Schrei der Kraniche gewesen. Hoch und schrill hatte er eine Sekunde lang das Tosen des Windes übertönt.
Elke lauschte aufMarius ’ Atem. Sie musste los. Sie musste zur Insel und vollenden, was sie angefangen hatte, noch in dieser Nacht, denn morgen würde der Wald schon voller Suchtrupps sein. Doch Marius fand heute schwer in den Schlaf. Er wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie wusste, dass es die Sorge um Laura war, die ihn wach hielt. Er sorgte sich um seine Patienten, er sorgte sich um Hanno und Jan, er hatte sich um Julia gesorgt, und jetzt sorgte er sich um Laura. Er war ein guter Mensch. Das war er nicht immer gewesen. Er hatte sie belogen und betrogen, hatte sie verlassen wollen, obwohl er vor dem Altar geschworen hatte, dass er bei ihr bleiben würde, bis dass der Tod sie schiede. Er hatte es nicht geschafft, sondern war der Versuchung erlegen. Er hatte geglaubt, dass er mit Julia glücklicher werden konnte als mit ihr. Aber sie hatte ihn auf den rechten Weg zurückgeführt. Sie hatte die Versuchung eliminiert. Und er hatte sich daran erinnert, wohin er gehörte. Wenn er nur wüsste, was sie für ihn getan hatte– er würde ihr dankbar sein bis an sein Lebensende.
Als Marius endlich schlief, huschte Elke aus dem Haus. Die Zeit lief ihr davon. Sie musste sich beeilen.
Als sie über den mondbeglänzten See ruderte, stieg die Wut wieder in ihr hoch. Sie hatte sich das alles so schön ausgemalt. Es hatte noch nicht jetzt stattfinden sollen. Erst nach der Geburt des Kindes hatte sie aktiv werden wollen. Das Kind wäre ein Geschenk für Jan gewesen, ihr Geschenk. Das kleine Wesen hätte ihm geholfen, den Verlust seiner Laura schneller zu verschmerzen. Aber was hatte sie auch in Hannos Hütte zu suchen gehabt? Wieso war sie so unverschämt gewesen, in seinen Sachen herumzuschnüffeln? Wenn sie das Tagebuch nicht gefunden hätte… Wenn sie nicht begriffen hätte, was außer ihr, Elke, niemand wusste, dass Marius und Julia ein Liebespaar gewesen waren– sie hätte die letzten Monate ihrer Schwangerschaft noch gut überstehen können. Sicher, es wäre ihr immer schlechter gegangen. Elke hätte die Dosis Maiglöckchensamen, die sie ihr schon seit einiger Zeit in die Smoothies mischte, langsam erhöht. So langsam, dass Laura sich zwar schlecht fühlen, das Kind in ihr aber nicht gefährdet sein würde. Und dann, irgendwann nach der Geburt, hätte sie sie so hoch gesetzt, dass Laura an der Vergiftung sehr schnell gestorben wäre. Niemand hätte sich wirklich gewundert. Alle hätten gedacht, dass die Schwangerschaft ihr so sehr zugesetzt hatte, dass ihr schwacher Körper es letzten Endes nicht schaffen konnte. Das war alles Makulatur. Laura war selbst schuld, dass ihr Kind nicht leben würde. Sie allein trug die Verantwortung dafür. In ihrer Tasche fühlte Elke die Spritzen, die sie seit vielen Jahren in ihrem Haus versteckte. Sie hatte sie im Krankenhaus gestohlen, als sie sich endgültig sicher gewesen war, dass Julia ihr Marius wegnehmen würde. Sie würde Laura damit ruhigstellen, damit sie sie ohne Probleme von der Insel wegschaffen konnte. Ein kleiner Stich, und Lauras Muskeln würden auf der Stelle erschlaffen. Sie würde sich nicht gegen sie wehren können. Sie würde sie ins Boot schaffen, zum Nordufer rudern, und dann würde das schwerste Stück Arbeit kommen. Sie musste Laura dorthin schaffen, wo sie kein Suchtrupp finden würde.
Hanno saß grübelnd auf der Bank vor seinem Haus. Was hätte das für eine wunderbare Nacht sein können. Der Vollmond legte sein magisches Licht auf den See und den Wald, irgendwo sang eine letzte Nachtigall. Bald würde auch sie in den Süden ziehen. Täuschte er sich, oder war ihr Gesang heute noch wehmütiger als sonst? Er
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