Das Jahr der Kraniche - Roman
so oft, von Patienten aufgehalten worden und erst vor fünf Minuten nach Hause gekommen.
»Besuch, wie nett. Wollt ihr mit uns essen? Wieso habt ihr Laura nicht mitgebracht?«
Sie hatte die beiden Männer angeschaut und gesehen, dass es sich hier nicht um einen harmlosen abendlichen Besuch handelte.
»Ist was mit Laura?«
Ihr Gesicht war ganz blass geworden vor Angst.
»Sie hat doch nicht das Baby…«
Sie konnte es nicht aussprechen, aber es war klar, dass sie fürchtete, Laura könnte eine Fehlgeburt gehabt haben.
»Sie ist also nicht hier bei euch?«
Hanno konnte seine Sorge nicht verbergen.
Elkes Blicke waren von Hanno zu Jan gegangen.
Er ist so grau. Genauso wie damals, als Julia verschwunden war. Als sei ihm das Herz gebrochen.
Elke war voller Mitleid für Jan. Es konnte doch nicht sein, dass er das Gleiche noch einmal erleben musste.
Marius rief das Krankenhaus an. Vielleicht, wenn sie einen Unfall gehabt hätte… Aber ins Krankenhaus war Laura nicht eingeliefert worden. Jan wollte zurück ins Jägerhaus. Vielleicht war sie inzwischen schon zu Hause, und sie machten sich alle umsonst Sorgen. Elke umarmte ihn herzlich.
»Wenn du es nicht aushältst allein, dann komm jederzeit zu uns.«
Sie wollte ihm so viel sagen. Dass alles gut werden, dass sie dafür sorgen würde, dass er nur noch einmal durch ein Tal des Schmerzes gehen musste.
Ihre Augen brannten, als sie Jan verabschiedete. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie ihn mit dem Hund in der Dunkelheit verschwinden sah.
Hanno und Marius beschlossen, dass sie, falls Laura bis zum nächsten Morgen nicht zurückkäme, eine Suchaktion starten würden. Sie würden den Wald durchsuchen und die Wiesen, würden den See abtauchen und seine Ufer absuchen.
»Es kann nicht sein, dass es wieder passiert.«
Elke sah Marius und Hanno flehend an.
»Ihr müsst mir versprechen, dass ihr sie findet. Jan würde es nicht überleben, wenn auch sie verschwindet. Wie Julia.«
Ihre Sorge war so erschütternd. Hanno nahm sie in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Sie hat sich wahrscheinlich verlaufen. Und als es dunkel wurde, hat sie sich einen Unterschlupf gesucht. Sie wird irgendwo auf einem Hochstand sitzen oder in einer Jagdhütte und abwarten, bis es hell wird. Und dann wird sie nach Hause kommen.«
Er wusste selbst, wie hohl seine Worte klangen. Aber er gab sich alle Mühe, sie zu glauben.
Lauras Zähne schlugen hart aufeinander. Ihr war so kalt. Wind war aufgekommen und pfiff durch die Bretterwand. Sie zog die Knie so eng an sich, wie es mit ihrem Bauch ging. Wenn sie sich wenigstens die Arme hätte reiben können. Aber alle Versuche, die Kabelbinder aufzubekommen, waren fehlgeschlagen. Ein paar Mal hatte sie noch nach Jan gerufen, aber sie hatte gleichzeitig gewusst, dass ihre Stimme nichts gegen das Rauschen des Windes ausrichten konnte, egal, wie nahe Jan ihr war. Er würde sie nicht hören.
Jan stand auf der Terrasse und lauschte in die Nacht. Shadow drängte sich an sein Knie. Hin und wieder war ein leises Winseln zu hören. Er spürte Jans Unruhe. Und er vermisste Laura. Es war für ihn absolut nicht in Ordnung, dass sie nicht da war.
Wo bist du? Laura. O Gott, gib mir ein Zeichen. Irgendwas, damit ich nicht irre werde. Sie darf nicht tot sein.
Es war alles seine Schuld. Er hätte sie nicht hierher bringen dürfen. Es gab so viele Orte auf der Welt, und er hatte sie ausgerechnet hierher gebracht, in ein Haus, in dem schon seine Mutter unglücklich gewesen und aus dem Julia geflüchtet war. Wie hatte er nur annehmen können, dass Laura den Fluch, der auf dem Haus lag, würde bannen können?
Er machte sich jeden Tag seines Lebens Vorwürfe, dass er nie bemerkt hatte, wie unglücklich seine Mutter hier wirklich gewesen war. Erst ihre Tagebücher und der Abschiedsbrief, den die Polizei ihm nach dem Unfall übergeben und von dem er niemandem erzählt hatte, hatten ihm die Augen geöffnet. Sie hatte nicht hier leben wollen. Nicht mit dem Mann, der sein Vater war. Er hatte sie viele Jahre lang in dem Haus eingesperrt, nicht physisch, aber psychisch. Er hatte ihr ein Gefängnis gebaut, in dem er ihr nach und nach das Selbstbewusstsein genommen hatte. Und schließlich auch die Selbstachtung. Bis sie schließlich keinen Ausweg mehr gewusst und sich das Leben genommen hatte. Und ihm auch. Jan hatte nie mit irgendjemandem über den immensen Schmerz gesprochen, den die Erkenntnis, dass er das Leid seiner Mutter übersehen hatte, in ihm
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