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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Hört mich jemand? Hilfe!«
    Sie lauschte in die Dunkelheit. Nur das Rauschen des Windes war zu hören. Sie schrie noch einmal um Hilfe und wusste doch, dass niemand sie hören würde. Sie schob sich mit dem Rücken an der Wand hoch. Schwindel überfiel sie. Jetzt nicht wieder ohnmächtig werden. Elke würde zurückkommen. Und ganz sicher nicht, um sie freizulassen. Mühsam um ihr Gleichgewicht kämpfend, rutschte sie an der Wand entlang, bis sie die Türklinke in ihrem Rücken spürte. Hoffnung stieg in ihr auf. Mit dem Ellbogen gelang es ihr, die Klinke hinunterzudrücken. Die Tür war abgeschlossen. Es gab keine Chance zu entkommen. Ihr Schluchzen ging in den hellen Schreien der Kraniche unter, die mit tosenden Flügelschlägen auf der Insel landeten. Sie sank in die Knie, rollte sich auf den Boden.
    Ich muss nachdenken, muss wissen, was ich tue, wenn sie zurückkommt.
    Sie erinnerte sich, was passiert war. Elke hatte sie bei Hanno mit Julias Tagebuch in der Hand angetroffen. Sie hatte ihr auf den Kopf zugesagt, dass ihr Mann ein Verhältnis mit Julia gehabt hatte. Und dann musste sie sie niedergeschlagen haben. Aber wieso? Wieso wollte Elke sie aus dem Weg haben? Es konnte doch nicht sein, dass sie so ausgerastet war, weil sie ihr gesagt hatte, dass ihr Mann ihr untreu gewesen war. Selbst wenn sie es nicht gewusst hatte, solche Dinge kamen doch vor. Dass Männer ihre Frauen betrogen und Frauen ihre Männer. Deswegen hatte sie sie doch nicht niederschlagen müssen. Doch nicht Elke. Die war zwar ein bisschen aufdringlich gewesen in den letzten Wochen, aber doch ihre Freundin.
    Die Kabelbinder schnitten schmerzend in ihr Fleisch. Sie spürte ihre Hände schon nicht mehr. Mühsam zwang sie sich dazu, ihre Finger zu bewegen. Irgendwie musste sie es schaffen, dass die Durchblutung nicht aufhörte. Sie lag auf dem gestampften Lehmboden und fühlte die Kälte in sich hochkriechen. Sicher, erfrieren würde sie nicht so schnell. Die Nächte waren zwar kühl, aber in der Hütte war sie einigermaßen geschützt.
    Die Hütte? Was war das für eine Hütte? Und wo stand sie? Hatte es überhaupt einen Sinn, um Hilfe zu rufen, oder befand sich die Hütte so tief im Wald, dass sie sowieso niemand hören würde? Sie lauschte angestrengt in die Stille. Aber da war nichts zu hören außer dem Wind, der in den Bäumen rauschte. Und da, klang das nicht wie Wasser? Wasser, das in leichter Bewegung war? Es konnten kleine Wellen sein, die an ein Ufer klatschten. Weit über sich hörte sie jetzt die Schreie. Die Kraniche! Sie flogen schon nach Süden. Glücksvögel hatte Jan sie genannt. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich an den Tag erinnerte, als sie so selig in Jans Auto gesessen hatte und zum ersten Mal leibhaftig einen Schwarm Kraniche gesehen hatte. Sie hatten ihr kein Glück gebracht. Im Gegenteil.
    Jetzt ertönten auch ganz in ihrer Nähe die charakteristischen Schreie. Die Kraniche mussten ganz in ihrer Nähe sein. Es klang, als würden sie ihren Brüdern am Himmel einen Gruß zuschicken, ihnen sagen, dass sie ihnen bald folgen würden.
    Jetzt wusste sie es. Sie musste auf der Insel sein, mitten im See, in Sichtweite des Jägerhauses. Wenn Jan wüsste, wo sie war, würde er in fünf Minuten bei ihr sein und sie hier rausholen.
    Sie schlug mit dem Kopf gegen die Bretterwand.
    »Jan!«, schrie sie. »Jan, ich bin hier! Jan!«
    Blut lief über ihr Gesicht. Die Wunde, die ihr Elke geschlagen hatte, musste durch ihr sinnloses Bumpern gegen die Wand wieder aufgeplatzt sein. Sie wischte sich mit den gefesselten Händen das Blut aus den Augen, versuchte, mit den Zähnen das Plastik des Kabelbinders durchzubeißen. Doch sie hatte keinen Erfolg. Natürlich nicht– diese schmalen Plastikbänder mussten ja etwas aushalten. Man konnte sie nicht so einfach durchbeißen.
    Was wird sie mit mir tun? Sie kann mich doch nicht einfach wieder freilassen, nach dem, was passiert ist.
    Würde sie überhaupt noch einmal hierher kommen? Oder würde sie hoffen, dass Laura hier elend umkam? Aber Jan würde die Polizei einschalten, wenn sie nicht nach Hause kam. Er würde eine Suchaktion starten, er würde sie finden und befreien. Wenn Elke nicht vorher zurückkam und sie umbrachte.
    Das Tagebuch brannte in Hannos Jackentasche. War es wirklich Elke gewesen, die es gefunden hatte? Seine Tochter hatte sich gefreut, als sie ihn und Jan vor der Tür stehen sah. Sie und Marius hatten gerade angefangen zu essen. Spät, sicherlich. Aber Marius war, wie

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