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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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gezögert, bevor sie es wagte, den dicken Hals des Pferdes zu streicheln. Hermes hatte ihr den Kopf zugewandt und sie prüfend angesehen. Als Mädchen hatte Laura in München Reitunterricht genommen. Und da sie sich kein eigenes Pferd leisten konnte, hatte sie ein paar Jahre auf einem Reiterhof gejobbt und sich mit Stallausmisten und Füttern und Striegeln die Möglichkeit geschaffen, hin und wieder ausreiten zu dürfen. Als es aufs Abitur zugegangen war, hatte sie das jedoch schweren Herzens eingestellt. Der Hof lag fast vierzig Kilometer von München entfernt, und die Hin- und Rückfahrt mit S-Bahn und Fahrrad hatten sie einfach zu viel Zeit gekostet. Sie hatte unterschiedliche Pferde geritten, aber ein Friese war damals nicht dabei gewesen.
    »Schon mein Großvater hatte einen Friesen. Argo hießder.«
    Jan war über den Zaun gestiegen. Wie winzig er neben dem großen Pferd gewirkt hatte.
    »Er war lammfromm und hatte nichts dagegen, dass ich meine ersten Reitversuche auf ihm unternahm.«
    Der kleine, schmale Junge auf diesem Riesenpferd. Seine Mutter hatte anfangs Bedenken gehabt, dass das Pferd mit seinem Reiter machen würde, was es wollte. Jan sah ihren besorgten Gesichtsausdruck vor sich, als sie, am Zaun stehend, zusah, wie ihr Schwiegervater Jan zum ersten Mal auf den breiten Rücken des Tiers hob und ihn einige Runden an der Longe reiten ließ. Es war ein großartiges Gefühl gewesen, diese Kraft unter sich zu spüren. Jans nackten Beine hatten kaum bis zur Mitte von Argos Bauch gereicht. Er hatte seine Hände in die lange Mähne des Pferdes gekrallt und sich darauf konzentriert, sich dessen Rhythmus anzupassen. Es hatte nicht lange gedauert, da durfte er die ersten Ausritte an der Seite seines Großvaters machen. Wie stolz er gewesen war. Wie der König der Uckermark war er sich vorgekommen. Der kleine Junge auf dem schwarzen Riesen, der auf das leiseste Schnalzen, auf den zartesten Schenkeldruck sofort reagierte. Einige Jahre lang war er fast täglich durch die Wälder geritten. Oft begleitet von Elke, die zunächst ein Pony ritt– das sich neben Argo wie ein Spielzeugpferd ausnahm–, aber dann von Hanno zum zehnten Geburtstag eine hübsche braune Trakehnerstute bekommen hatte.
    Hermes war jetzt fast achtzehn Jahre alt. Jan hatte sich den Hengst, zusammen mit der Stute Flora, gekauft, als er nach dem Studium wieder ins Jägerhaus zurückgekehrt war. Er hatte vorgehabt, eine kleine Zucht anzufangen. Doch kurz nachdem das erste Fohlen geboren war, war er weggegangen und hatte die Pferde in Hannos Obhut gelassen.
    Es rührte ihn jedes Mal wieder, dass Hermes ohne zu zögern auf sein Schnalzen reagierte und ihn so vertraulich begrüßte, als hätte er ihn nicht zehn Jahre lang vernachlässigt.
    Laura beobachtete, wie Jan seinen Kopf an den Hals seines Pferdes legte. Was genau er dem Tier zuflüsterte, konnte sie nicht wahrnehmen, aber der schwarze Hengst blickte so aufmerksam, als könne er jedes einzelne von Jans Worten verstehen.
    Jetzt kam auch die Stute näher. Sie stupste Jan in den Rücken, wollte offensichtlich seine Aufmerksamkeit. Jan lachte leise auf, drehte sich zu ihr um und küsste sie auf die breite Stirn.
    »Flora, meine Hübsche, hallo.«
    Er zog einen kleinen Apfel aus der Tasche und hielt ihn ihr hin.
    Flora, die etwas kleiner war als Hermes, war eindeutig bestechlich. Jeder konnte ihr Pferdeherz gewinnen, wenn er ihr einen Apfel anbot. Hermes dagegen verschmähte Äpfel. Er war nur auf Zuckerstücke aus, die er natürlich nicht bekommen durfte.
    Laura holte einen Apfel aus ihrer Tasche. Flora bekam das wie immer aus dem Augenwinkel mit. Sofort ließ sie von Jan ab und wandte sich Laura zu. Sie nahm ihr vorsichtig den Apfel von der Hand. Und als sie ihn verspeist hatte, bohrte sie ihre Nase in Jans Jackentasche. Hermes beobachtete die Situation mit einer gewissen Verachtung im Blick, trat dann einen Schritt auf Laura zu, die Floras Mähne streichelte, und schnaubte durch die Nüstern.
    »Na, komm, sei nicht eifersüchtig. Das ist nun wirklich unter deiner Würde.«
    So sehr der Hengst seine Gefährtin Flora liebte– er konnte es einfach nicht leiden, wenn sie sich in den Mittelpunkt drängte.
    Jan umschlang den Hals des Pferdes und schmuste mit dem Riesen wie mit einem Stofftier.
    »Ja, mein Großer, du bist der Chef. Das habe ich nicht vergessen. Aber die Kleine braucht doch auch etwas Zuwendung.«
    Laura sog den Duft von Floras dickem Fell ein, rieb ihre Nase an ihrem Hals, ihre Hand

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