Das Jahr der Kraniche - Roman
in den Griff zu kriegen.
»Ruhig, Kleine. Ruhig.«
Und tatsächlich, das Pferd blieb stehen. Laura lobte es mit leiser Stimme. Und sah sich gleichzeitig um. Was hatte das Pferd bewogen loszulaufen? War es von irgendetwas erschreckt worden? Doch alles war unverändert. Nur ein Wiedehopf hatte sich in der Nähe niedergelassen und stöberte mit seinem gebogenen Schnabel nach Würmern.
»Du hast sie inzwischen wirklich gut im Griff.«
Jan hatte mit einem leisen Erschrecken beobachtet, wie sich Flora plötzlich selbstständig gemacht hatte. Eine Sekunde lang war die Angst in ihm hochgeschossen. Doch dann hatte er mit Bewunderung beobachtet, dass Laura ganz gelassen geblieben war.
Elke schnipste noch einmal mit den Fingern. Sie sah, dass Flora die Ohren spitzte und den Kopf in ihre Richtung wandte. Doch sie blieb wie festgenagelt neben Hermes stehen. Elke schnipste noch einmal.
»Komm her, Flora, komm zu mir.«
Doch sie musste einsehen, dass sie keine Macht mehr über das Pferd hatte. Von einem Augenblick zum anderen hatte sie Flora verloren. An Jans neue Frau.
»Hallo, ihr zwei.«
Elke stieg über den Zaun. Jetzt kam Flora auf sie zu und begrüßte sie mit einem Stupser gegen die Schulter, als wäre nichts geschehen.
»Hallo, meine Schöne.«
Elke kraulte Flora zwischen den Ohren. Das Pferd hielt still. Man hörte nur seinen Atem.
»Na, du kleine Verräterin?«, flüsterte Elke ihr ins Ohr.
Jan kam auf Hermes heran.
»Hallo.«
Er sprang vom Pferd und nahm Elke kurz in den Arm.
»Na, Kleine, alles gut?«
Er war locker und entspannt. Die Maisonne ließ sein dunkles Haar glänzen. Elke sah auf seiner Nase einen leichten Schweißfilm.
»Ja, natürlich, alles super. Ich wusste nicht, dass ihr heute Zeit für einen Ausritt habt.«
Sie strich dem Pferd über die muskulösen Flanken, über den Rücken, küsste es auf die Nase. Dann drehte sie sich zu Laura. Ihr Blick war offen und freundlich.
»Sie kommen ja toll mit Flora klar. Glückwunsch! Manchmal kann sie nämlich schon ziemlich zickig sein, meine Kleine.«
»Tatsächlich? Ist mir gar nicht aufgefallen. Bei mir verhält sie sich absolut mustergültig.«
»Sie hat eben begriffen, dass du ihr neuer Boss bist.«
Jan küsste Laura auf den Mund, als wären sie allein auf der Welt.
»Okay, dann will ich nicht weiter stören. Ich sehe mir übrigens morgen eine Stute an, die ich vielleicht kaufen will. Hier bin ich ja nun wirklich überflüssig.«
Laura glaubte einen bitteren Unterton in Elkes Stimme zu hören. Sie sah kurz zu Jan hin. Doch der fing ganz unbefangen an, mit Elke über die Vorzüge ihrer Lieblingspferderasse, der Trakehner, zu reden. Elke hatte früher immer Trakehner gehabt. In ihren Augen waren sie deutlich hübscher und eleganter als die riesigen Friesen. Obwohl Flora in ihren Augen das schönste Friesenmädchen war, das Elke kannte.
»Flora wird eifersüchtig sein, wenn sie Sie auf einem anderen Pferd sieht.«
»Das hoffe ich doch. Immerhin war ich jahrelang ihre einzige Bezugsperson.«
Elke zwang sich zu einem Lachen, obwohl ihr im Moment eher zum Heulen zumute war. Es fiel ihr schwer, sich von der Stute zu trennen. So schwer, wie jeder Abschied, den sie nehmen musste. Wieso konnte nicht einfach alles so bleiben, wie es war?
»Wenn Sie schon mal da sind, wollen Sie mit Flora nicht noch einen Abschiedsausritt machen?«
Sie verstand sie. Sie konnte ihren Schmerz nachfühlen. Elke konnte nicht anders, sie musste Laura einfach bewundern.
»Aber wolltet ihr nicht gerade ausreiten? Ich will eure Pläne nicht durcheinanderbringen.«
»Ach was, wir haben eigentlich noch jede Menge zu tun. Und, ehrlich gesagt, wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie sich heute nochmals um die Pferde kümmern würden.«
»Da helfe ich Ihnen natürlich gern.«
Laura sprang von der Stute, nahm den Helm ab und legte Elke die Zügel in die Hand. Auch Jan stieg ab.
Unglaublich, was Laura für ein Gespür hat!
Elke zog sich die Stiefel an, setzte den Helm auf und schwang sich mühelos auf Floras Rücken. Jan öffnete das Gatter, und sie ritt ohne ein weiteres Wort davon. Laura sah ihr eine Weile nach. Neidlos erkannte sie die absolute Harmonie, die zwischen Pferd und Reiterin herrschte.
»Flora ist dein Pferd.« Jan hatte Lauras Blick bemerkt. »Elke hat sich auf ihren Trakehnerstuten schon immer wohler gefühlt.«
Laura nickte nur. Eine Ahnung beschlich sie, dass es so ganz einfach mit Elke nicht werden würde. Einen Augenblick lang fühlte sie sich wie
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