Das Jahr der Maus
das hat er jetzt alles hinter sich. Mattison, achtundzwanzig Jahre alt, alleinstehend, gutmütig und einigermaßen intelligent, ist in seinem Heilungsprozeß schon ein ganzes Stück vorangekommen. In den letzten achtzehn Monaten war er hier in Silver Lake nicht nur Insasse, sondern auch Mitarbeiter, hat allmählich den Übergang vom Opfer seiner eigenen lausigen Impulskontrolle zum Hüter der weniger Glücklichen geschafft und ist nun ein leuchtendes Beispiel für diejenigen, die sich aus dem Dreck ziehen wollen, wie er es getan hat.
Mehrere der weniger Glücklichen kommen jetzt einer nach dem anderen herein. Offizielle Weckzeit im Silver Lake. Citizens Service House ist um halb sieben, und es wird erwartet, daß man um sieben unten beim Frühstück ist, eine Regel, die nahezu jeder befolgt, denn ab halb acht gibt es kein Frühstück mehr. Ausnahmen werden nicht gemacht. Mattison selbst ist jeden Morgen um fünf auf den Beinen, weil unnatürlich frühes Aufstehen ein selbst auferlegter Bestandteil seiner harten Therapie ist, und Nicky Herzog verläßt sein Zimmer für gewöhnlich lange vor der vorgeschriebenen Weckzeit, weil permanente Schlaflosigkeit sich als zufällige Facette seiner Therapie erwiesen hat, aber die meisten anderen wachen bestenfalls ungern auf. Einige würden wahrscheinlich überhaupt nie aus den Federn kommen, wenn es im Haus nicht das Kumpel-Punktesystem gäbe, bei dem man kleine Bonus-Bonbons kriegt, wenn man dafür sorgt, daß der Zimmergenosse, der gern länger schläft, gar nicht erst Gelegenheit dazu hat.
Mary Maud Gulliver ist als erste da, gefolgt von ihrer mürrisch dreinschauenden Zimmergenossin Annette Lopez, und nach ihnen – ein Haufen Yeatsscher Bestien, die zum Frühstück schlurfen – kommen Paul Foust, Herb Evans, Lenny Prochaska, Nadine Doheny, Marty Cobos und Marcus Hawks. Das sind die meisten, und die anderen werden in zwei oder drei Minuten auch da sein. Und natürlich, da kommen sie schon. Blazes McFlynn, der tumbe Muskelprotz, ist als nächster unten – Mattison hört, wie er im Frühstückraum Herzog auf die Schippe nimmt. Aus irgendeinem Grund macht es ihm Spaß, ihn zu verarschen. »Morgen, du elende kleine Schwuchtel«, sagt McFlynn. »Du blöder Sack.« Herzog geifert zurück, eine wütende, reichlich obszöne und flammende Reaktion. Immerhin, mit Worten kann er umgehen. McFlynn bringt ihn auf die Palme; er ist ein paarmal dafür getadelt worden, wie er sich Herzog gegenüber benimmt. Herzog ist ein nervöser, nicht gerade liebenswerter Typ, aber soweit Mattison weiß, ist er keine Schwuchtel. Ganz im Gegenteil.
Buck Randegger, langsam und latschig und umgänglich, erscheint als nächster, dann kommt die voluminöse Melissa Hornack, die Frau mit dem Sechserkinn und dem Nilpferdrumpf. Jetzt fehlen nur noch zwei oder drei, und Mattison hört sie schon auf der Treppe. Die gegenwärtige Belegschaft des Silver Lake Citizens Service House besteht aus vierzehn Insassen und vier hauptamtlichen Mitarbeitern, die ebenfalls im Haus untergebracht sind. Sie bewohnen ein geräumiges und komfortables altes, dreistöckiges Sechzehn-Zimmer-Haus, das so um 1920 oder 1930 herum mal die Villa eines großen Stummfilmstars gewesen sein soll. Bis vor fünf oder sechs Jahren war das Haus in noch schlimmerem Zustand als seine gegenwärtigen Bewohner, aber es ist von seinen Insassen seither im Rahmen ihrer Pflichten im Citizens Service hübsch renoviert worden.
Mattison hat schon längst gefrühstückt, aber normalerweise geht er in den Speisesaal und setzt sich zu den anderen, während sie essen, nur für den Fall, daß jemand schlecht gelaunt aufgewacht ist und ein bißchen auf den Teppich gebracht werden muß. Da alle hier ständig in stärkerem oder geringerem Maße unter irgendwelchen Entzugserscheinungen leiden und selbst diejenigen, die das Entzugsstadium weitgehend hinter sich haben, noch längst nicht über das Alptraumstadium hinaus sind, können die Leute ziemlich ungenießbar werden, und dann ist Mattisons Statur beruflich von großem Vorteil.
Aber gerade als er nun vom Bildschirm aufsteht, um den anderen hinein zu folgen, gibt dieser eine Serie von Pings von sich, wie Kirchenglocken, die den Sonntagsgottesdienst ankündigen, und draußen in Arcadia, ein paar Blocks östlich der Santa Anita Avenue, zwischen Duarte Road und Foothill Boulevard, bildet sich eine kleine Linie grüner Punkte, die jeweils vielleicht sechs Häuserblocks auseinander liegen, biegt dann nach Nordwesten
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