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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Regierung, die en bloc bei der school of the americas studiert hat, dem IWF gern einen Gefallen täte. Ja, nach Fort Benning verreisen, das wäre noch was. Ich könnte alle meine Extrakilometer einsammeln, die ich mir im letzten halben Jahr zusammengefahren habe, und die DMB AG bitten, einen Schienenstrang nach Amerika zu verlegen, Endstation Fort Benning, bitte alles aussteigen. Darf dann natürlich nicht vergessen, meine Diktatorensonnenbrille mitzunehmen, Marke Ray Ban. Oder ich könnte Tankwart werden. Normalerweise, wenn alle Stricke reißen, wird einer Tankwart. Statt dessen laufe ich herum wie mein eigenes Röntgenbild, wie ein mannsgroßes offenes Bein, offen bis auf den Knochen, der spaltbar ist und weiß aus der offenen Wunde hervorschaut. Knochengeld für Nozizeptoren. Wer etwas Besonderes sein will, ist immer erpreßbar. Gehn wir zum Trinken in die Erpreßbar, zweimal Lethe light. Dann nach Hause. Zur Genitalienshow. Gen Italien. Itaker nach Itaka in Kriechland. Row row row your boat, Odysseus, dein Name klingt wie ein Desinfektionsmittel aus dem letzten Jahrhundert, ruder schon mal, ich komm dann nach. Kristalliner Motor Einsamkeit. Kolbenhub. Einhundert Jahre Mikroprozessortechnik. Alle Stricke gerissen. Die Polizei warnt vor Geschwindigkeitsüberschreitungen im freien Fall. Was ist der Sinn des Wortes kämpfen?
     
    Oder es ist eher zart, wie eine Form der Liebe. Ich sitze in einem meiner immer anspruchsloseren Hotels, den Fahrschein nach sonstwohin schon gelöst, ein Kaffee auf dem Tisch, stumpfe Wände mit fraktalen Blumenmustern. Die Fee kommt herein, und setzt sich zu mir. Sie hat die grazilen Bewegungen der perfekten Wesen. Sie ist etwas Besonderes und nicht erpreßbar. Der Aufenthaltsraum des Hotels, eigentlich ein größeres Wohnzimmer, leuchtet, seitdem sie eingetreten ist. Sie ist nicht perfekt schön; sie hat Falten, und ihr Mund ist für eine Fee ein wenig zu voll. Sie sieht ganz anders aus, als die Fee, die mir in den Zügen auf meiner Flucht begegnet ist, und doch ist es dieselbe Frau. Sie ist wunderbar. Wir verstehen uns gleich. Ein anderer Mann schaut mißbilligend von seiner Zeitung auf, weil sich um unser leise gehaltenes Gespräch so viel Leben entspinnt, aber als sein Blick auf die Fee fällt, ist er besänftigt und widmet seine Aufmerksamkeit wieder wichtigeren Dingen als einem Liebespaar, z.B. den Aussichten der Amerikaner im Angolakrieg. Wir haben kaum drei Minuten miteinander gesprochen, da erzählt mir die Fee, sie sei einst medikamentenabhängig gewesen. Sie zieht dazu den linken Mundwinkel hoch wie jemand, der eine peinliche Tatsache mit Humor nimmt. Dieses Hochziehen des Mundwinkels wirkt wie oft geübt, und es macht sie noch schöner. Sie sagt:
    »Ich war verzweifelt, ich war süchtig. Man brachte mich in eine geschlossene Abteilung, weil ich mich nicht mehr versorgen konnte. Ich hatte mich für eine Woche in mein Zimmer eingesperrt, und alle Tabletten vor mir ausgebreitet, meinen ganzen Vorrat an Angstlosigkeit. Auch mein ganzes Geld hatte ich dabei. Immer, wenn eines meiner Kinder anklopfte, gab ich ihm einen Geldschein, damit es sich etwas zu essen kaufen konnte. Ich sagte zu meinen Kindern, das sei ein Spiel. Irgendwann rief mein Ex-Mann die Polizei, und sie brachten mich also in diese geschlossene Abteilung. Dort war ich lange, und ich biß mir während des Entzuges immer in die Hand.«
    Die Fee zeigte mir ihre Hand, auf der immer noch Halbkreise von feinen weißen Strichen zu sehen waren.
    »Wenn es blutete«, sagte sie, »tat es mehr weh als der Suchtschmerz. Die Ärzte rechneten nicht mehr mit mir. Sie wünschten mich loszuwerden, weil ich ihnen ihre Machtlosigkeit demonstrierte. Dann kam der Tag vor meiner Entlassung. Ich ging mit einem Wärter in einem Waldstück bei der Klinik spazieren. Ich bat den Wärter, mich eine Weile allein zu lassen, und er zuckte mit den Schultern, weil er dachte: Die wird morgen sowieso entlassen, also was soll’s. Er muß wohl noch sehr unerfahren gewesen sein, vielleicht wollte er auch nur ein bißchen in Ruhe rauchen. Ich ging allein. Da war ein kleiner Bach. Ich setzte mich an den Bach und nahm das Messer heraus, das ich aus der Küche beim Abwaschdienst gestohlen hatte. Ich zog meine Schuhe aus. Kurz unterhalb der Knöchel schnitt ich meine Füße auf, vier Schnitte, weil ich glaubte, man könne so sterben. Ich ließ das Blut in den Bach fließen, als flösse ich mit ihm. Aber es kam nur sehr wenig Blut, und nach zehn Minuten, als

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