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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Formulierungen dieser Ansage machte, die vor Jahren von der unseriös gutgelaunten Karteileiche eines Künstlervermittlungsdienstes auf den Soundchip gesprochen worden war. Ich glaubte allen Ernstes ein Anrecht darauf zu haben, daß mir die leichten Snacks an und nicht in der Hotelbar serviert wurden. Ich fand, daß ›Anregung‹ und ›Erholung‹ sich schlecht je Zeiteinheit und Person von der gleichen Sache/Handlung/Vorstellung abschöpfen ließen. Ich spaltete Haare.
     
    Auf lange Sicht vertilgt es sie.
    Was ist dann mein Job hier.
    Rinnthal kann nicht warten.
    Schlaf undenkbar bis zum Morgen.
     
    Einen Tag vor dem dritten Clubabend, bei dem ich zugegen sein sollte, zog ich meine Magnetkarte durch das Schloß an meinem Postfach im Hotel, und – hoppla – die Post war dagewesen. Das Päckchen hatte knapp nur in das Postfach hineingepaßt, was mochte darin sein? Das Postfach war sicher klug genug gewesen, um die stabförmige Sendung darauf zu untersuchen, ob sie Sprengstoff, Drogen, geschärftes Metall oder sonstige Dinge enthielt, die einem reibungslosen Hotelbetrieb abträglich waren, aber von den Helfern kam das Geschenk doch auf jeden Fall, und ich war neugierig, wie sie es mich denn anstellen lassen wollten. Als ich in meinem Zimmer die äußerste Hülle von der Verpackung abzog, wurde eine zweite Lage Papier, die sehr dünn und empfindlich war, unwiederbringlich zerrissen. Eine weitere Hülle kam zum Vorschein, auf der zu lesen stand: Geh. Ich hatte eigentlich keine Videokameras in meinem Zimmer bemerkt, aber das sollte nichts heißen, in der letzten Zeit wurde von Nanokameras geredet, die in einem Fliegenschiß ein halbes Jahr persönliche Geschichte aufspeichern konnten, autonom, ohne Stromzufuhr von außen, ohne Strom überhaupt. Ich warf mir meinen Mantel über. Da das Innere der Städte ebenfalls videoüberwacht war, nahm ich einen Bus aufs Land und ging ein wenig spazieren. Ich war ohne mein Zutun in eine Gegend geraten, wo Windfarmen und von Bodenfrost überzogene Agrarwüsten aneinander gerieten, jetzt im Spätherbst war ich dort draußen einsamer als auf dem Mond. Die Straße, die ich entlang ging, war die Zonengrenze. Links wie rechts Springkraut, auf Zaunpfählen aufgebockt, die sich nach oben zu einem Y gabelten. Springkraut war die neueste Stacheldrahtgeneration, eine Berührung konnte jedes beliebige Körperteil kosten. Billiglohnländer benutzten Springkraut als Ersatz für die Minen, die ihnen von den Springkrauterzeugerländern verboten worden waren. Ich wußte, diese Straße hätte mich bei Bedarf zum Meer gebracht, das sich aufs Zufrieren vorbereitete. Mitten im Nirgendwo packte ich mein Geschenk aus. Ich sah zum Himmel auf und hoffte, daß keiner der weltweiten Satellitenoperatoren gerade jetzt Zeitung lesen wollte. Eine letzte Hülle um den Inhalt warnte mich: Vorsicht! Ich zog sie herunter, und hielt ein schwarzes Stöckchen in der Hand, nach Größe und Gewicht ideal, um es für einen Hund in die Wiese zu werfen. Aber nein, an seinem rechten Ende ragte eine griffartige Struktur heraus, die erstaunlich gut in meiner Hand lag, als ich sie umfaßte. Ich zog leicht daran, und das Messer glitt aus der Scheide wie geölt. Rein formal gesehen wirkte es wie eine Mischung aus Grillspieß und überlangem Rasiermesser. Die Klinge hatte eine stumpfgraue Farbe und sah nicht sehr scharf aus, aber ich hatte keine Lust, einen Finger zu verlieren, nur weil ich den Klugscheißer markieren wollte. Als ich die Klinge wieder in der Scheide versenkt hatte und das Ding aus der Verpackung ganz heraushob, fielen einige Schnüre und Plastikschnallen herab, die man mit einiger Phantasie als Halfter verstehen konnte. Tatsächlich ließ sich das Messer am Leib tragen, als wäre ich damit geboren worden. Es störte mich nicht einmal beim Schlafen.
     
    Rinnthal ließ auf sich warten. Die anderen saßen schon auf ihren unbequemen Stühlen, ich stand schon in meinem Kreidekreis, aber der Meister fehlte noch. Ich vermutete schon, ich sei umsonst gekommen, und freute mich darüber wie über einen geplatzten Zahnarzttermin. Als Rinnthal doch noch in der Tür zum Clubsaal erschien, wurden meine Hände sofort feucht. Er machte einen sicheren und sogar freundlichen Eindruck, beim Hinsetzen lächelte er mir zu. Er ahnte nichts. Der Medizinmann erschien, und alle freuten sich auf ihren fünfminütigen Rausch. Obwohl ich das nun zum dritten Mal mitmachte, wurde ich vom Anprall der Schallramme genauso getroffen wie alle

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