Das Jahr der Maus
anderen. Ich erwartete beinahe, daß alles so verlief wie die beiden Male vorher, aber kurz nachdem die Helfer den Rausch bei mir abgedreht hatten, öffnete sich das fünfte Haus in mir, das bis dahin immer geschlossen gewesen war, und entließ einen bösen Geist namens Jan, wie eine alte Schatulle einen Gestank entläßt. Jan überkam mich. Ich erfuhr an meinem eigenen Leib, wie er gewesen war, und freute mich für einen Sekundenbruchteil über seinen Tod. Die Helfer benutzten Jan durch mich, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich war völlig gefühllos. Jan zog das Messer unter meinem Hemd hervor. Eine Weile lang hielt er es bloß in der Hand. Der Club jaulte und grimassierte, Rinnthal betrachtete mit gebeugtem Kopf seine Hände, als wären sie unendlich interessant. Jan brachte das Messer zwischen Rinnthals Schultergürtel und Schlüsselbein nieder, es sank bis zum Heft ein, obwohl der Hieb nicht sehr stark gewesen war. Bis dahin zuckte Rinnthal nicht einmal. Dann drehte Jan das Messer um 90 Grad und zog an seinem Griff. Die Schneide ging durch Schlüsselbein und Brustkorb, als wäre da gar nichts. Er hörte erst auf zu ziehen, als es keinen Hebel mehr gab. Die riesige Wunde begann zu bluten, und Rinnthal sah auf. Erst jetzt löste sich seine Konzentration von den wunderbaren Händen auf dem Tisch. Der zerstörte Lungenflügel entließ seine Luft. Ein leichter Scheißgeruch machte sich breit, als sei der Mastdarm auch betroffen. Als Rinnthal fragte: »Was machst du mit mir?«, antwortete Jan: »Nichts Besonderes.« Es war sogar seine Stimme. Jan wollte nicht sehen, was er bis jetzt schon angerichtet hatte. Er ging zu Aicheler, der so lustvoll zitterte, daß sein ganzes Körperfett in Aufruhr war. Jan schnitt ihm die Nase ab und legte sie vor ihn auf den Tisch. Aicheler reagierte nicht einmal. Ich geriet in Panik, weil ich glaubte, daß Jan ein Mitglied des Clubs nach dem anderen abschlachten würde. Aber als Aichelers Nase in einer bierdeckelgroßen Blutpfütze auf dem Tisch lag, erstaunlich klein und selbständig, bekamen die Helfer Jan wieder unter Kontrolle. Er legte das Messer, das ganz und gar sauber war, auf den Tisch; daneben, in paralleler Ausrichtung, die Scheide. Rinnthal war nicht mehr zu sehen, er war wohl zum Sterben unter den Tisch gerutscht. Der ganze Tisch bebte vor Begeisterung. Jan ging mit mir aus dem Raum. In der Garderobe bemerkte er, daß er beim Ziehen des Messers mein Hemd zerschnitten hatte, schnell und geschickt warf er mir den Wintermantel über, nachdem er mutwillig alle anderen Mäntel von ihren Haken gerissen hatte, um sie auf dem Boden zu zerstreuen. Der große Wollstoff des Futters fühlte sich rauh und unangenehm auf der Haut an, wie Schuldbewußtsein. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte Hilfe holen, Hilfe für Rinnthal, der keine mehr brauchte, und für Aicheler, dessen Nase man vielleicht wieder annähen konnte, damit er nicht für den Rest seines Lebens ein dicker Mann mit einer künstlichen Nase sein mußte. Hilfe für die anderen Honoratioren, die bald aus sein würden. Warum hilft mir denn keiner, dachte ich. Jan, der unschuldig aussehende Junge mit den braunen Augen, den hellen Haaren und den Zigarettennarben auf seinen schmalen Unterarmen, stand vor mir und sah mich spöttisch an.
»Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner«, sagte er, als äffe er jemanden nach.
Ich konnte nicht einfach so gehen, nach der Schlachtung. Ich war müde, ich wollte mich stellen. »Komm«, sagte Jan, als wolle er mir etwas zeigen, und nahm mich an der Hand. Er führte mich die Treppe zur Rezeption dieses seltsamen Clubs hinunter, unsere Schritte wurden durch den dicken Teppich verschluckt, der über die Stufen gespannt war. Jede Stufe war tiefer als die vorhergehende, und ich fragte mich, ob ich die letzte nicht vielleicht hinunterfallen würde. Obwohl Jan nur für mich sichtbar war, muß ich wohl einen seltsamen Eindruck bei den beiden Damen hinterlassen haben, die nach den Clubtreffen immer den Mineralwassernachschub hinaufbrachten. Ich lächelte sie also an, und sagte so leichthin wie möglich: »Das dauert noch da oben. Viertelstunde oder so. Wiedersehen.« Dann zog mich Jan von dort weg. Er führte mich durch die Straßen Rendsburgs. Die kleine Stadt machte mir einen guten Eindruck, obwohl es sehr kalt war, und anscheinend etwas mit meinem Hemd nicht stimmte. Ich fand auch, daß der Junge, der mich hinter sich herzog, viel zu dünn angezogen war. Wenige Menschen begegneten uns, und die
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