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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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überquert den Außenflur im 17. Stock und bemerkt die neue Baustelle Richtung Outram Park, die vor einem Monat noch nicht da war. Der samtigfeuchte Wind trägt Jasminparfüm von Räucherwerk und scharfe Gewürzdüfte von den Hoke-Centas in den Straßenfluchten hoch. Aus den offenen Wonungstüren, die mit reichverzierten Gittern aus Karbonmetall versperrt sind, schlagen ihr Wortfetzen in Hokien, Malai und Latino entgegen. Sie hört eine ausgelassenen Frau zu einer Karaoke-Feeldisk singen, die wahrscheinlich vergessen hat, die Lautstärke der Anlage herunterzudrehen. Amber lächelt, schön zwischen all den Reisen wieder einmal zu Hause zu sein. Ihre Entscheidung war richtig gewesen, in Singapura zu bleiben und nicht nach Beijing zu ziehen, was zwar viel praktischer gewesen wäre, da die meisten interkontinentalen Linien über den Knotenpunkt in der nördlichen Han-Union führen. Aber Singa ist Amber mit der Mehrsprachigkeit und den Menschen verschiedenster Herkunft ans Herz gewachsen. All die feingliedrigen, diskreten Menschen mit den freundlichen Gesichtern, die höfliche Zurückhaltung, die einer warmen Gastfreundschaft mit Anschluß an den Clan Platz macht, sobald das Eis geschmolzen ist. Amber fühlt sich hier zugleich aufgehoben und in Ruhe gelassen. Und das ultratropische Klima hat ihr nie zu schaffen gemacht, da sie sich von der üppig-warmen Luft eher getragen als niedergedrückt fühlt.
    Sie richtet den Schlüsselchip auf ihre Wohnungstür, die sich lautlos öffnet, streift sich die Sandalen von den Füßen, nickt im Vorbeigehen Guanyin zu, die im roten Licht eines Halos auf dem Hausaltar schimmert, und läßt sich auf ihr Bettsofa fallen.
    Der erste freie Abend seit wie lange? Sie überlegt sich, ob sie zuerst gedämpften Fisch bestellen oder doch lieber ihre private Mailkiste checken soll, die sie aus Vertraulichkeitsgründen nie über ihren Firmenanschluß anwählt. Denn jedes Kind weiß, daß die Angestellten und alle ihnen zugeordnete Daten in Singa von HanNet jederzeit durchleuchtet werden können. HanNet ist ja nicht umsonst GAIAS erster und größter Kommunikationsbroker.
    Amber wählt über ihren HandySchirm Michael Lus Anschrift, tippt ihre CredNummer ein und schaut sich das aktuelle Menu an. Sie klickt Wels auf Ingwer- und Okrabett, dann Parfümreis und Grüntee (1 Portion) an. Damit die Lieferung sofort ausgeführt wird, drückt sie zusätzlich den Prioritätsknopf.
    Einige Minuten später bringt ihr ein TechGirl auf Inlines das Paket. Die junge Frau mit den violett-schwarzen Stoppelhaaren kommt Amber bekannt vor, wo hat sie sie bloß schon gesehen. Die Frau lächelt ihr zu und murmelt: »Heut nacht in Pasir Ris, Überraschungsparty im Untergrund, folge den purpurnen Halos, Paßwort: Senti.« Die kurzhaarige Frau zwinkert ihr zu und gleitet davon.
    Amber stellt die Klimaanlage ab, öffnet mit der Fernsteuerung Türen und Fenster und läßt den kühleren Lufthauch, den die frühen Abendstunden gebracht haben, durch ihr Apartment ziehen. Sie setzt sich ans Fenster, von dem aus sie den pulsierenden Eu Tong Seng-Boulevard sehen kann und zerlegt mit den Stäbchen den perfekt gargekochten Fisch.
    Die bunten Neon- und Haloschriftzüge preisen in Mandarin, Amerikanisch und Malai die neuesten Produkte und Dienstleistungen an: das letzte Spielupdate von GigaMaria auf Feeldisk, Bios zu 589.99 Singadollars das Stück, was für die biologisch generierten Menschen ein wahrer Spottpreis ist, Anteilscheine bei der National Hell Bank of Hongkong für verstorbene Verwandte über HanNet, die brandneue interaktive Feeldisk namens LedaSwan aus New Bangkok, Cali (was wohl Hardcybersex bedeuten wird) und ein neugeschaffener Service für die Vermittlung von Schweizer Hausmännern, die als Köche und Haushälter anscheinend den besten Ruf genießen.
    Zum letzteren Thema vor Ort zu recherchieren, wäre Amber für einen nächsten Auftrag genau recht. Sie wird morgen, den Antrag von ihrem Expertenprogramm schreiben lassen, das sie Sifu getauft hat. Sie wollte das Programm, das die meiste Arbeit für sie übernimmt, zuerst Boy oder Ober nennen, aber als es mehr und mehr Recherchierarbeiten in Bibliotheksdateien und über die Suchdienste erledigte, schien ihr eine solche Bezeichnung allzu abwertend. Die Software arbeitete schneller als ihr eigenes Hirn, war zuverlässiger und ließ sich nicht durch Gefühle oder Lüste aus der Ruhe bringen. So hatte sich Amber für den Ausdruck Sifu entschieden, was auf chinesisch soviel wie

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