Das Jahr der Maus
beobachtet im Dunkeln die geometrischen Muster ihrer Gehirnsynapsen, aus denen deutlich eine Gestalt hervortritt. Mandelförmige graue Augen, ein ovales Gesicht mit mongolischen Gesichtszügen, eine dichte dunkelbraune Haarmähne, dieses unverschämte Lächeln. Nelson im weißen Overall der Trainingseinheit von Ulan Bator.
Seltsam, daß er ihr während dem Studium an der USC in Los Angeles nicht aufgefallen war, er hatte zur selben Zeit wie sie ein Gastjahr absolviert. Das hatten sie erst Jahre später im Schwimmbad des Astroports herausgefunden, als sie ihn zum ersten Mal angesprochen hatte – fälschlicherweise auf tatarisch, da sie ihn für einen einheimischen Techniker gehalten hatte. Diese Fehleinschätzung war im Grunde genommen positiv gewesen, denn Ambers Selbstsicherheit war für einen Sekundenbruchteil aus dem Gleichgewicht geworfen, und so hatte sich Nelson Lächeln wie ein Virus in ihrem Körper verbreiten können.
Die warme Frauenstimme mit der singenden Intonation holt Amber aus ihrem emotionalen Selbstcheck: »Tampines.« Die nächste Station wird Pasir Ris sein.
Amber konzentriert sich auf die Region ihres Schädels, die seit jeher als Drittes Auge bekannt ist. Sie will herausfinden, ob ihre stimmlose Sprache bereits gut genug trainiert ist, um dem Sensor das gewünschte Paßwort mitzuteilen.
Die automatische Tür der Bahn öffnet sich lautlos, Amber folgt den purpurnen Lichtpunkten, kramt den HandySchirm aus ihrer Gurttasche, um die Prinzessin zu aktivieren. Der rote Sensor hinter der NetCom-Kabine wird die Paßwortschranke sein. Ein grün blinkendes Licht fordert sie auf, das Paßwort auszusprechen. Amber visualisiert das Wort SENTI vor ihrem inneren Auge, sie tritt durch die Schranke und lächelt zufrieden, geschafft, Sifu wird sich freuen und das Training intensivieren. Als sie mit dem Finger die Figur der weißgewandeten Schönheit antippen will, hört sie eine tiefe Stimme mit amerikanischen Akzent in ihr Ohr flüstern: »Das hast du doch gar nicht nötig. Bleib wie du bist, das mag ich.«
Sie dreht sich um und steht vor einem muskulösen Afro, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheint und sie von oben herab angrinst. Xango, diesmal mit regenbogenfarbenem Kraushaar und integral in silberblaues Latex gekleidet. Xango, das ungekrönte Oberhaupt der ZuluNation, murmelt zustimmend: »Kompliment an Prinzessin Bernstein, mit deinem sechsten Sinn wirst du auch für uns attraktiv. Oder willst du noch lange als Spionin für Zhong guo [2] arbeiten?«
Amber kontert locker: »Genosse, ich suche mir meinen Arbeitgeber jeweils selbst aus. Trotzdem danke fürs Angebot. Ich könnte darauf zurückkommen.«
Erst jetzt wird ihr bewußt, daß Xango die Schranke durchschritten hat, ohne zur Paßworteingabe aufgefordert worden zu sein, was nur heißen kann, daß er auf der VIP-Liste steht oder den Anlaß selbst mitorganisiert hat. Xango ist kein Niemand mehr, was auch sein Haute Couture-Outfit beweist.
»Thani & Jassim?« fragt Amber und streichelt den hautartigen Stoff.
Xango wirft ihr einen Seitenblick zu und schließt zustimmend die Augenlider.
Durch eine schwere Metalltür, die lautlos vor ihnen aufgleitet, gelangen die beiden in einen stillgelegten U-Bahnschacht, der vor einigen Jahrzehnten zum Knotenpunkt nach Malaysia hätte ausgebaut werden sollen. Mit der Machtergreifung des Jihad Islam, der im Jahr 2022 stattfand und sich konsequent gegen jede Biotechnik wandte, wurden diese Pläne nicht realisiert. Singa entwickelte sich zu einer internationalen Metropole, die ihren Nachbarn links liegen ließ und sich lieber mit den Konföderierten der Han- und Thai-Union verbündete, die im Bereich der Genindustrie die Marktleader waren.
Die von einer größeren Menschenmenge gefüllte Halle wird von flackernden Kerzenhalos erhellt, aus den 3D-Boxen dröhnt das aufreizende Blubbern und Glucksen des TechnoBang, einer südasiatischen Musikrichtung, die sich aus dem HoustonHouse und dem Euro-Trance entwickelt hat. Amber ist froh, zwei Semester Musikgeschichte studiert zu haben, denn mit derartigem Insiderwissen ist ihr die Anerkennung der abgefahrensten Avantgardisten sicher.
Xango wirft die Arme in die Höhe und tanzt mit aufreizendem Hüftkreisen einer holografisch aufgemotzten Frau entgegen: androgyner Körper mit etwas zu üppigen Brüsten, die von einem rabenschwarzen Tactel-Dress mehr schlecht als recht bedeckt sind. Amber konzentriert sich auf den Blick der sehnigen Chinesin, denn die Augen sind der
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