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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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einzige Bereich des Körper, die holografisch nicht verändert werden können – noch nicht. Die Fenster zur Seele, die nur Eingeweihte der Trance und Meditation willentlich beeinflussen können.
    Lili, das kann nur Lili Tiamat sein, Kungfu-Kämpferin und Schauspielerin, der Verbindungen zu den Geishas nachgesagt werden.
    Amber setzt sich auf einen der plüschigen Barhocker, bestellt einen Singa Sling und erinnert sich an ihre erste Begegnung mit Lili, als sie beide die dunkelblaue Schuluniform der katholischen Mädchenschule trugen. Sainte Marie de Lourdes prangte in ultramarinblauem Neonschriftzug über dem Eingang der Schule, um mit dem europäischen Namen eine gewisse Seriosität auszustrahlen und die Töchter der wohlhabenden Familien anzulocken.
    Während Amber in der Menschenmenge nach andern vertrauten Gesichtern sucht, bringt ihr ein durchtrainierter Schönling den Drink und fragt sie nach zusätzlichen Wünschen. Da sie zögert, schürzt er die Lippen und flüstert ihr etwas zu laut ins Ohr: »Mein Name ist Huang, und ich bin für heute abend Ihr Host. Darf es Nackenmassage, Shanghai Lady, Händchenhalten oder Separee sein?«
    Seit wann treten Callboys in Singa derart aggressiv auf? Diese Berufsgattung wird hier höchstens geduldet und dementsprechend diskret treten die Hosts normalerweise auf. Amber begutachtet den Mann, einen hochgewachsenen Eurasier mit ausgeprägten Wangenknochen. Seinem Auftreten und Styling nach kann das ein sehr ausgelassener, aber auch teurer Spaß werden. Der Host bemerkt ihr Zaudern und flüstert leiser: »Ein Geschenk der Gastgeberin.«
    Amber sieht Xango und Lili auf der Tanzfläche, die sie aus den Augenwinkeln beobachten. Sie tastet die Oberschenkel des Hosts ab, gleitet wie zufällig höher und fragt unschuldig: »Alles echt?«, da sie heute keine Lust auf eine Transvestita hat.
    Seine Augen blitzen auf: »Klar, erste Klasse.« Amber nimmt ihn bei der Hand und sagt: »Tanzen wir, danach sehen wir weiter.«
    Huang bewegt sich raubtierhaft rhythmisch. Koreanischer oder vietnamesischer Einschlag – ach, Amber, laß das Analysieren sein. Tanzen hilft dagegen am besten, sie lockert sich, hüpft herum, unauffällig beobachtet durch die drei Augenpaare von Lili, Xango, Huang.
    Der Host ist ihrem Geschmack nach zu stromlinienförmig mit seinem Kurzhaarschnitt und dem Couture-Anzug aus dunkelblauer Seide, aber seine Blicke sind gut, abgründig irgendwie, in einem anregenden Gegensatz zu seinem schnittigen Äußeren. Etwas Verzehrendes in der Art, wie er sie ansieht, wahrscheinlich antrainiertes Verhalten, aber gut gespielt.
    Für einen kurzen Augenblick setzt die Musik aus, das Licht erlischt, und das herzartige Wummern setzt wieder ein, ohne Melodie diesmal. Diese Zäsur läßt in Ambers Bauch eine rubinrote Azalee knospen, die ihr Blut in Honig verwandelt, flüssiges Harz in ihren Adern. Die Halos werden zu Kristallen, die sich zu drehen beginnen, langsam erst, dann schneller und spiralig wirbelnd. Mist, der Sling war mit Easy angereichert, einem dynamischen Halluzinogen, das in der Löwenstadt synthetisiert wird und auf der Szene große Erfolge feiert.
    Amber faßt Huang bei der Hand: »Bring mich weg von hier.«
    »Separee?«
    »Nein, AutoCab.«
    Huang zieht die linke Augenbraue hoch, er ist auf ausgefallene Kundinnen spezialisiert, aber was soll das werden? Über seinen HandySchirm am Gurt läßt er ein AutoCab kommen, das bei der U-Bahnstation warten soll. Als er mit Amber draußen ankommt, steht das Gefährt bereit. Amber läßt sich auf den Vordersitz fallen, hält ihre CredKarte vor den Sensor und nennt als Ziel das Tropicana auf Sentosa. Mit leisem Surren setzt sich das selbstgesteuerte Taxi in Fahrt.
    Die vorbeiziehenden Lichter formen sich zu Paisleymustern, ultraviolette Molekularstrukturen schimmern durch, sie sind durchwoben mit goldenen chinesischen Piktogrammen aus frühesten Zeiten. Die Zeichen wachsen zusammen, verändern sich, bekommen neue Bedeutungen, öfters erscheint dasjenige des Tigers.
    Amber greift Huangs Hand und hält sie sich an die Stirn: »Fiebrig?«
    »Nein, eher kühl.«
    In dem Moment beschleunigen sich die Muster, ihr Magen wird durch die wachsende Geschwindigkeit zusammengestaucht. Nach einem Augenblick absoluter Stille und Schwärze sieht sie kalt schimmernde Kugeln an sich vorbeischießen. Die Schwerkraft wirkt nicht mehr; dank dem Sicherheitsgurt bleibt sie im Polster sitzen. Neben ihr sitzt ein Cosmo in einem Raumanzug; die aufgenähte

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