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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Wind zu haben, es gilt mit der Welle zu reiten, von einer Welle zur nächsten zu hüpfen. Kein Zufall, daß sich die Info-Broker untereinander als Quicksilver bezeichnen und in der Regel auch nicht bereit sind zusammenzuarbeiten. Sie sind zäh, giftig und überall zur selben Zeit, die professionellen Einzelgänger in einer vernetzten, verworrenen Welt, den AstroArbeitern nicht unähnlich, die im Orbit, auf dem Mond und nun seit neuestem auf dem Mars in der Kälte und Schwerelosigkeit des Alls den Grundstein dazu legen, was in Jahrzehnten und Jahrhunderten einer größeren Bevölkerung erlauben wird, zu diesen im Moment noch unerschlossenen Orten auszuwandern und irgendwann einmal heimisch zu werden. Pfadfinder, TechSchamanen, von denen die Menschheit erwartet, einen Ersatz für die weitgehend verlorengegangen Religionen und Lebensinhalte zu stiften. Denn was im Alltag zählt, sind ausschließlich Creds, Singadollars und Rupien oder die Zugehörigkeit zu einem mächtigen Clan, den Mensch sich wiederum hauptsächlich nur mit Creds erkaufen kann.
    Amber hat die Freiheit ihres Jobs immer gemocht, auch wenn sie weiß, daß sie in der hierarchischen Struktur von HanNet jederzeit von einer jüngeren, zäheren Schwester ersetzt werden kann. Zur Zeit gibt es keinen Anlaß zur Unruhe, da sie ihre Einsätze selbst beantragen kann und diese meist auch von HanNet erlaubt und sogar aktiv unterstützt werden.
    Amber merkt, daß sie mit der Müdigkeit ein Anflug von Einsamkeit überkommt, den sie mit einer Jetlagpille zu verscheuchen versucht, und sie macht sich für die Party in Pasir Ris zurecht.
    Um auf möglichst alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, rüstet sie ihren HandySchirm mit der Cyber-Erweiterung auf, die es ihr erlaubt, vor Ort aus einer Anzahl von selbstgeschaffenen Persönlichkeiten – Geisha, TechGirl, Amazon, Bi-Wesen und chinesische Prinzessin – eine passende zu projizieren. Nicht immer hat sie Lust, sie selbst zu sein und schon gar nicht an einer Singa-Untergrundparty, bei der sich immer auch unerwartete und außerlegale Dinge abspielen können. Die Vorfreude und ein Prickeln durchfluten den Körper, die Genhormone der eingenommenen Pille wirken sich positiv aus.
    Amber fährt mit dem Hauslift direkt ins fünfte Untergeschoß, das über eine sensorgesteuerte Schiebetür mit der MRT-Station verbunden ist.
    Da die U-Bahn zwischen Mitternacht und fünf Uhr nur alle zwölf Minuten fährt, muß sich Amber etwas gedulden. Ihr fröstelt, denn die Aircon ist höchstens auf 18° eingestellt, die Schweißperlen auf ihren Schultern fühlen sich augenblicklich kalt an. Diese Temperatur ist pure Verschwendung in ihren Augen, jedoch für die SingapurianerInnen ein Statussymbol und eine Unerläßlichkeit der Zivilisation selbst.
    Beim Einsteigen in den verchromten Zug aktiviert sie mit einem Fingerdruck den Kontakt unter ihrem rechten Ohr, der den automatischen Translator anwirft. Der Übersetzungschip, der ihr ins rechte Ohr eingesetzt wurde, ist eine Neuentwicklung von HanNet, die es ihr erlaubt, gleichzeitig Übersetzung und Originalsprache zu hören und, was den meisten zum Glück nicht bekannt war, interessante Gesprächsstücke zu speichern. Das ist für ihr Training wichtig, hat aber auch gewisse andere Vorteile. Leider ist die technische Entwicklung noch nicht soweit, den Translator auch auf die eigenen Stimmbänder anzuwenden, und so stellt Amber die scheppernde computergenerierte Stimme, über die Gegenüber meist schmunzeln, erst gar nicht ein, auch wenn die Übertragung stilistisch und grammatikalisch nichts zu wünschen übrig läßt. Sie trainiert lieber mit Sifu neue und alte Sprachen, jeden Tag mindestens dreißig Minuten lang.
    Eine Gefahr ihres Berufes wird ihr in diesem Chrompfeil, der durch den Dschungel der Großstadtinsel schießt, blitzartig bewußt: Die Checklisten, mit denen sie Menschen, Verhalten, Materialien, Klima und Intuitives durchgeht, sind ihr derart vertraut, daß sie sie vollständig verinnerlicht hat.
    Es schmerzt sie, den Verlust an Spontaneität in ihren Reaktionen festzustellen. Hinter der selbstsicheren Professionalität lauert die Gefahr der Erstarrung. Nie länger als drei Jahre denselben Job erledigen, war bisher ihre Devise gewesen, das heißt, daß sie in fünf Monaten umsatteln sollte. Natürlich würde das ihrer Karriere als InfoBrokerin schaden. In Singa bleiben? Zu Leda nach Newbang? Sich als AstroArbeiterin bewerben? Andere Alternativen?
    Amber schließt die Augen, sie

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