Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
herbe Schönheit dieser Großstadtlandschaft aus Stein, Beton und Stahl und Glas, das Netzwerk der Schluchten, die Verbindung der engen, fast lichtlosen Gassen mit Geschäfts- und Zufahrtsstraßen, die auf Plätze stoßen, Gewerbeviertel kühn durchschneiden oder in mächtig breite Hauptverkehrsschneisen münden, von denen Alleen abzweigen, die zu Parks, Boulevards, zu Cafés, zu Palästen und Friedhöfen führen. Hoch oben, auf Stahlkonstruktionen, donnern die U- und S-Bahn-Züge vorbei, mit ihrem ganz speziellen Sound, um gleich darauf in dunklen und geheimnisvollen Schluchten und Röhren zu verschwinden – oh ja, gottverdammt, echt geil. Obwohl ich die letzten Wochen und Monate pausenlos mit enormer Intensität verlebt hatte, wie ein Höhlenforscher, der sich mit seiner Lampe durch ein geheimnisvolles Höhlensystem bewegt, erlebte ich diesen Moment, in dem ich mich mit meinen Freunden von einem Jaguar ins Herz der City rollen ließ, während wir alle unserer Verschmelzung mit der Großstadt entgegenfieberten, so intensiv, dass mir Schauer der Wonne über den Rücken krochen. Doris, auch in dieser Hinsicht ganz auf meiner Welle, hatte mit traumhafter Sicherheit die richtige Kassette eingeschoben.
Juke Box Mama
von Link Wray kam gut, aber ebenso
Stray Cat Blues
von den Rolling Stones oder
Nighthawkin’
von Tim Buckley. Aufgeputscht, dem Abenteuer dicht auf den Fersen, schnippten wir mit den Fingern, glotzten ausgehungert durch die Scheiben, blickten uns ab und zu lächelnd an, vertrauensvoll – und glücklich, weil die Botschaft unserer Blicke
Freundschaft
hieß.
Am Hauptbahnhof fanden wir sogar einen Parkplatz. Dann ließen wir uns ziellos durch die City treiben. Zehn Minuten lang. Vom scharfen Wind gepeitscht zu werden grenzte schon an Folter, wäre aber zähneknirschend von uns hingenommen worden, als Preis der Freiheit, des Streunens und Schauens, denn nichts ist umsonst, wie wir ja oft genug erfahren hatten. Dass die Scheißstadt uns zur Begrüßung mit Schneeregen duschen würde, hatten wir allerdings nicht erwartet. Girlanden, Fahnen, roten Teppich und so’n Zeug natürlich auch nicht – aber dass uns nun mit einem Schlag der ganze Trip vermasselt werden sollte, war nicht leicht zu verkraften.
»Na«, sagte ich boshaft, »wenn das nicht wieder ein Hinweis auf die Existenz Gottes ist – und auf seine Liebe.«
Wir standen fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern, unterm Vordach des Alsterhauses. Von unseren Haaren tropfte Wasser. Ich kniff die Augen zusammen und wartete streitlustig auf die Antwort. Wenn ich so was äußerte, folgte die Antwort normalerweise umgehend, von beiden, in erregter Form von Bülent, mit Ekel gefüllt von Doris. Doch diesmal herrschte Stille. Sieh an, sieh an, dachte ich triumphierend, sie werden allmählich mürbe, dank meiner zähen Überzeugungsarbeit Oder haben die Penner gar nicht zugehört? Ich wiederholte den Satz, das Höhnische stärker betonend.
»Ja, ja, mein Gott, wir haben’s schon beim ersten Mal kapiert«, fauchte Doris genervt. »Du willst damit sagen, ein höheres Wesen sei in der Lage, das ganze Jahr über für angenehme Temperaturen zu sorgen.«
»Was heißt
höheres Wesen
, ey«, ereiferte sich Bülent. »Es gibt nur den einen Gott, Allah – und Mohammed ist sein Prophet.«
»Da bin ich, ehrlich gesagt, skeptisch«, sagte Doris, den Kopf bedächtig schüttelnd, worauf Bülent gequält aufschrie, und ich begriff, dass sich nichts geändert hatte.
Im Alsterpavillon empfing uns warme Spießigkeit. Ältere, von Frauen-Power unberührte Damen mit perfekten Dauerwellen, auf denen putzige Hütchen schaukelten, benetzten die Kehlen dezent mit Tee, Kaffee oder Alkohol und schoben, flink wie Vögelchen, mit der Kuchengabel quasi verwachsen, Unmengen an Sahnetorten-Schnitten hinterher. Sie waren vertraut mit den Kellnern und sonnten sich ungeniert im Wissen um ihre Relevanz im Konzept der Alsterpavillon-Betreiber. Im sehr begrenzten Gäste-Spektrum gab es noch die nicht minder langweiligen älteren Herren im marineblauen Blazer mit Goldknöpfen, die typischen Geschäftsleute in dunklen Anzügen und die unvermeidliche Herde ehrfürchtig um sich blickender Touristen.
An freien Tischen herrschte kein Mangel. Wenigstens
eine
angenehme Seite des Schneeregens. Wir suchten uns einen Tisch in Palmen-Nähe aus. Der Anblick von Palmen weckt angenehme Empfindungen – Sonne und Wärme, biblische Bilder, magisches Licht an den Ufern des Nils.
»Was darf’s denn sein?«
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