Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
völlig ahnungslos auf den King stoßen. Wolltest du uns etwa voll gegen die Wand fahren lassen? Hab ich dir irgendwas getan?«
Alle lachten. In dieser Stimmung fiel das Lachen so leicht wie das Atmen. Das nächste Lachen war schon startbereit, bedrängt von den nachrückenden Lachern, ungeduldig dem Einsatz entgegenfiebernd. So lief es zumindest in mir ab, oh edle Gedanken, mit Philosophie vergoldet, oh Scheiße, so intensiv, ’ne Weile her, dass ich mich mit den Menschen um mich herum so verbunden fühlte, als Glied einer kostbaren Kette, oh ja, ich fand’s berauschend schön, mal wieder über einen Lach-Vorrat, dieses kostbare Luxus-Geschenk, zu verfügen, den ich mit Freuden verschwenden würde.
»Und er
ist
der King, verdammt noch mal!« Aus Mick schrie die Leidenschaft. »Der kleine Drecksack ist der echte Elvis Presley aus der Zeit von 1956 bis 1960, Leute. Das ich das noch mal erleben darf … Und schon dafür, Bülent, alter Stinker, liebe ich dich!«
Früher hätte Bülent ihm zugedachte Bezeichnungen aus der
Drecksack
- und
Stinker
-Abteilung automatisch als Kampfansage aufgefasst und wäre – zack, peng, boing – zu einem Wüterich auf Hulk-Niveau mutiert. Mittlerweile hatte er sich mit seinem jetzigen, ganz und gar nicht typisch deutschen, doch größtenteils von germanischen Freaks dominierten Umfeld recht vertraut gemacht, kam sich manchmal vor wie ein Völkerkundler inmitten eines bizarr-exotischen Stammes und hatte von daher längst begriffen, dass derbe Worte nicht unbedingt böse gemeint waren, dass sie, wie in diesem Fall, sogar von Liebe zeugten. Geschmeidig flog er zurück zum Mikrofon, unverschämt selbstsicher, gnadenlos sympathisch: »Ist gebongt, alter Scheißer.« Er lachte vergnügt, zwinkernd, beide Daumen hochreckend. »Du hast wie Scotty Moore gespielt. Hab ich gleich erkannt. Du hast es echt drauf, Mann, oh Scheiße, ihr alle habt es! Was ihr mir heute gegeben habt, hätte ich vor einigen Wochen noch nicht mal zu wünschen gewagt. Und warum? Weil mich diese Wünsche geängstigt hätten, weil ich, der Unwissende, Suchende, wenn auch hellwach Zweifelnde, immer noch den alten Regeln unterworfen war, dem Zwang zur Selbstzensur im Kopf und all dem Scheiß. Doch in letzter Zeit habe ich, inspiriert von Hans, Eddy und Doris, mein dämmriges Unterbewusstsein mit deutscher Gewissenhaftigkeit, wenn auch meist völlig stoned, durchforstet. Ich hab auch einiges gefunden. Positive Eigenschaften ebenso wie Abgründiges, Resultate der Verletzungen, die mir im Laufe der Jahre zugefügt wurden, auf die ich jetzt nicht weiter eingehen möchte. Mein Horizont hat sich jedenfalls enorm erweitert, ich habe mich sowie meine Umwelt besser kennengelernt und finde mich mittlerweile ganz okay, wenn ihr versteht, was ich meine. Dieses Rauschen, Pochen, Dröhnen in mir, das mich früher ängstigte, weil ich dahinter nackte Gier vermutete – jetzt kann ich’s verkraften. Was heißt
verkraften?
, ganz falsch, denn ich meine natürlich, jetzt kann ich’s lieben, es ist ja der Motor in mir, der mich antreibt, der jeden Künstler vorwärtsdrängen lässt, der den Hunger nach dem intensiven Leben und die Leidenschaft, es einzusaugen, zu verarbeiten und zu beschreiben, entfacht! Heute bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt! Kein Scheiß, ist die Wahrheit! Ich brauch übrigens zufällig noch ’ne Band. Habt ihr Lust, ihr geilen Wichser?«
Unser Lachen, vereint mit kräftigem Applaus, war von Hochachtung bestimmt. Ich saß da, überrumpelt, mit offenem Mund, und dachte verwundert, mein Gott, was war das denn?, der kleine Scheißer hat offenbar ein Rhetorik-Lehrbuch in der Hand gehabt, meine Fresse, ich kenne diesen Burschen, wie’s aussieht, so gut wie gar nicht.
Der rundliche Drummer, den alle Welt, im Einklang mit Bülents Bild vom bizarr-exotischen Stamm, Knackwurst nannte, sagte gerührt, also keineswegs in seinem üblichen rotzigen Rocker-Ton: »Alter, Alter, ich muss dir sagen, wir haben schon ewig lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Ich weiß nicht, wie’s im Terminkalender meiner Kumpels aussieht, aber wenn alles so sauber hinhaut wie heute, könnte ich mir tatsächlich vorstellen, dass wir demnächst gemeinsam die Säle und Hallen im Umkreis von 100 Kilometern zum Kochen bringen.« Abermals stürmischer Beifall – bis Eddy, das Arbeitstier, ungeduldig die Gemütlichkeit für beendet erklärte.
Mit den folgenden Songs –
Rip It Up, Blue Suede Shoes, Jailhouse Rock
und
Hound Dog
–
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