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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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entfachten sie einen Sturm, der uns fast von den Stühlen fegte, das lang ersehnte Rock’n’Roll-Gewitter, die offenbar überfällige Rock’n’Roll-Katharsis. Sie standen voll unter Strom, die Jungs, grinsten sich an, nickend und augenzwinkernd, auf einer gemeinsamen Welle, inzwischen ganz locker, und alles war makellos. Wann, um alles in der Welt?, fragte ich mich erschauernd, hab ich zuletzt eine Rock’n’Roll-Band
live
erlebt, die so dreckig, so echt, so rauh und dennoch filigran, zum Schluchzen schön, zur Sache kam? Da ich Spiritualität jeder Art zum Kotzen fand, war ich Gott sei Dank selbst zu dieser Stunde gefeit vor jedweden religiösen Anfechtungen. Doris hingegen, da war ich mir sicher, wurde mal wieder spirituell überflutet. Da ich ja ebenfalls elektrisiert und verzaubert war, verkniff ich mir Spott und Hohn.
    Anschließend strömte, statt Frischluft, pure Zuversicht durch den verqualmten Raum, die Atmosphäre, aufgepumpt mit Lebenslust, schien spielerisch das Licht, die Farben, Stimmen, selbst den Nachhall der Musik in Samt und Seide einzuhüllen, in unseren Augen glühte der Glaube an den neuen Elvis.
    In der zweiten Januar-Hälfte galt Bülents Lehrzeit als abgeschlossen. Sein erster Auftritt auf der Bühne des Party-Saals in der Scheune fand vor etwa 40 Leuten statt, die Eddy eingeladen hatte. Voller Erfolg, saugeile Party, gewissermaßen das Gesellenstück. Eddy, als gewiefter Manager mit gutem Ruf, hatte zu diesem Zeitpunkt schon Verträge für sieben Auftritte in der Tasche. Provinz- und Stadtrand-Klitschen, nicht gerade die große Welt – noch nicht, vielleicht noch lange nicht, aber Tingeln gehört nun mal zum Geschäft, und immerhin hatte Eddy Kontakt zu Lokalzeitungen und zum
Hamburger Abendblatt
. Der erste Gig, die Feuertaufe sozusagen, sollte im
Cheyenne Club
in Sasel sein. Typische Vorstadt-Disco. Im Grunde hässlich, zum Kotzen geschmacklos, wie in allen traurigen Stadtteilen und öden Provinznestern Zufluchtsort für Jugendliche, die allesamt Blue Jeans, Turnschuhe, Sweat-Shirts und Jeansjacken trugen und üblicherweise Astra-Export aus der Flasche tranken. Doch der Laden, der locker 300 Gäste aufnehmen konnte, war am Wochenende stets gerammelt voll, und bei Live-Auftritten wurde es oftmals gefährlich eng. Man wusste allerdings auch, dass es Ärger geben könnte, wenn das Publikum unzufrieden sein sollte.
    Auf jeden Fall: erst mal alles in trockenen Tüchern. Und endlich, erschöpft, doch siegesgewiss, war Eddy bereit uns Ausgang zu gewähren. Musste auch sein, denn wir gingen uns allmählich ganz schön auf die Eier, hatten uns mehrmals, jeder gegen jeden, wegen Nichtigkeiten angegiftet, die Gesprächsrunden liefen, der Aggressionen wegen, allmählich aus dem Ruder. In den letzten Tagen waren wir uns wie in einem Internierungslager vorgekommen, in einem komfortablen zwar, keine Frage, und selbstverständlich ein Paradies im Vergleich mit echten Gefängnissen, aber da draußen, rund um den Hof, wähnten wir mittlerweile, schon leicht meschugge, massenhaft Stolperdrähte, mit Alarm- und Selbstschuss-Anlagen verbunden, Tretminen, Fallgruben und so weiter.
    Von der Berti-Drossel-Sache hatten wir Eddy natürlich erzählt. »Eigentlich darf ich mich westlich der Alster gar nicht blicken lassen«, hatte ich gesagt. Der gute Eddy Tietgen war kurzzeitig blass geworden, hatte aber cool reagiert: »Ist nicht gut fürs Geschäft, lässt sich jedoch nicht ändern.«
    Er kam zwar nicht mit, doch ich durfte den Jaguar fahren. Geiles Gefühl, das kühle Holz des Lenkrads streicheln zu dürfen, der Motor brummte satt und kräftig. Mittwoch, 18. Januar 1978, früher Nachmittag, grauer Himmel, graue Landschaft, Scheißkälte sowieso, nahe am Gefrierpunkt. Aber scheiß drauf, wir waren in Fahrt. Hamburger Stadtgebiet, der Rand dünn besiedelt, anfangs zu beiden Seiten der Straße die Kette gesichtsloser Einfamilien-Häuser mit rücksichtslos getrimmten Vorgärten, und da vorn, auf der linken Seite, der
Cheyenne Club
, dann Tankstellen, Baumärkte, Autohändler, Möbel-Geschäfte, Handwerksbetriebe, schmucklose Mehrfamilienhäuser aus den 50er Jahren – ab Bramfeld wurden die Gebäude größer, höher, rückten zusammen, drängten sich aneinander, nach einigen Kilometern, schon in Barmbek, floss die mittlerweile breitgewordene Straße durch Häuserschluchten immer tiefer hinein ins Häusergebirge, umbrandet vom Strom der Limousinen, Busse, LKWs. Und nicht zum ersten Mal überwältigte mich die

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