Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
anderenfalls müsse er sich einen anderen Gesprächspartner suchen. Nach einem Blick in sein entsetztes Gesicht wurde ich ein wenig milder und versuchte es mit einem Appell an seine Einsichtsfähigkeit. Es dürfe ihm doch nicht egal sein, dass Diktaturen vom Westen nicht nur geduldet, sondern unter der Hand oder gar offen unterstützt würden, sofern diese antikommunistisch eingestellt seien – wie zum Beispiel in Chile, in Argentinien, Bolivien, Paraguay, Uruguay, Brasilien, um nur ein paar Staaten zu nennen. Ich sagte, die Liste der prowestlichen beziehungsweise vom Westen nicht nur akzeptierten, sondern massiv unterstützten Diktaturen sei erschreckend lang – und dazu gesellten sich dann noch die Länder des Ostblocks und eine Reihe mit ihnen sympathisierender Diktaturen in Asien und Afrika. Gerechtigkeit, sagte ich, nun wieder erregt, sei ein Begriff, der von den westlichen Regierungen zwar gern und oft benutzt würde, aber offenbar für die diktatorisch regierten Länder nicht gelte. »Ja, wie denn auch!«, rief ich aufgebracht. »Diesem Begriff wird ja selbst hier in Wahrheit nicht die gebührende Achtung erwiesen!« Im Schneckentempo bewege man sich auf die Gerechtigkeit zu, und es habe der 68er-Unruhen und, nicht zuletzt, des Kanzlers Willy Brandt bedurft, damit sich endlich einiges bewegt habe – zum Beispiel die Frauenemanzipation, die Schwulenbewegung, mehr Rechte für Arbeiter und Angestellte. Ich schwieg erschöpft und durstig, leerte mein Glas und füllte es erneut.
Immerhin hatte ich erreicht, dass sich auf Freds Gesicht der Ausdruck von Nachdenklichkeit breitmachte. So habe er das noch gar nicht gesehen, sagte er bedächtig, als formten sich seine Gedanken erst beim Sprechen. Er sei sowieso nicht sehr politisch, habe die Ereignisse damals – 1968 und so – zwar mit einer gewissen Sympathie verfolgt, aus der Distanz, wie ein Zuschauer im Theater, auf einem der besseren Plätze – bequemer Sessel, guter Überblick, beide Hände frei zum Beifallklatschen, wie etwa bei den Happenings der Kommune 1 –, aber ohne sich wirklich damit auseinanderzusetzen. Auch die Musik – Beat, Rock, Underground, Westcoast, Soul – habe ihm von Anfang an gefallen, doch deren Schönheit sei ihm erst spät aufgefallen, da er nie richtig aus den 50er Jahren herausgefunden habe. Vermutlich eine Reaktion auf die Diktatur seiner Mutter. »Ich hab die 50er Jahre und den Rock’n’Roll als ein sicheres Rückzugsgebiet angesehen, glaube ich. Die 50er waren für mich eher ein Ort als eine bestimmte Zeit.« Bevor er weitersprach, leerte er ebenfalls sein Glas und füllte es wieder. »Für meine Mutter waren die 50er Jahre so unangenehm wie das Jahrzehnt davor, wie all die Jahre danach. Sie sah in allem nur das Schlechte, war nicht in der Lage sich zu freuen, obwohl sie nie unter Entbehrungen oder Krankheiten zu leiden hatte. Mein Vater, den ich kaum gekannt hatte, scheint das völlige Gegenteil von ihr gewesen zu sein: kunstbegeistert, lustig, trinkfreudig. Vielleicht war sie gar nicht meine richtige Mutter. Vielleicht hat mich mein Vater ihr untergeschoben.«
»Das stelle ich mir sehr schwierig vor«, sagte ich, und dann lachten wir, bis ich mit dem Ellbogen gegen den Plattenspieler stieß. Danach lachten wir nicht mehr, da sich die Nadel – der Diamant, um genau zu sein – buchstäblich durch die Rillen pflügte, sodass die Seite im Arsch war, ausgerechnet Freds erste Elvis-Single, die er sich 1956 gekauft hatte, die für ihn eine Ikone darstellte,
That’s All Right, Mama
, Elvis Presleys erste Single, aus der PX, also amerikanische Pressung, nicht mehr wiederzukriegen. Er hatte das Stück natürlich auch auf der LP
Rock’N’Roll No. 1
, und zwar in wesentlich besserer Klangqualität, aber das war offensichtlich nicht dasselbe.
Er wurde bleich, war nicht einmal zornig – nur traurig, ein Kind, dessen wertvollstes Sammelbild zerrissen wurde.
Ich musste ihn tröstend in den Arm nehmen. Und schon schnurrte er.
Während der nächsten Tage fand ich meine Unbeschwertheit wieder. Leichtfüßige, leider schnell verwehende Tage. Nach meinem subjektiven Zeitgefühl flossen die Stunden viel schneller als sonst in den Gully der Vergangenheit – was ich, auf die Ratio pfeifend, als Betrug empfand, da ich die Klebrigkeit, die grausame Dehnbarkeit der Stunden, Tage, Monate im Knast, noch genau vor mir …, ja, buchstäblich vor mir sah. Ich konnte noch immer, wie in den sieben Gefängnisjahren, die Zeit vertropfen
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