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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Rote?«
    Die rote Abendsonne brach durch die hohen Fenster des Hauses mit dem roten Dach und dem von Weinreben umrankten Balkon, was es wie eine Etikette auf einer alten Weinflasche aussehen ließ. Der kupferne Wetterhahn zitterte auf dem Gipfel, auf der Wiese brannte ein Feuer für ihr Picknick. Er kam über die ganze riesige Wiese zu diesem Feuer gestapft. Er schritt aus, wobei er sich alle Mühe gab, nicht vom geraden Weg abzuweichen – wogegen er schließlich doch nichts machen konnte. Der Geruch des Abends, des Grases, des nahen Teichs, der im Feuer backenden Kartoffeln …
    Nasar Mytez, der gute Nasar, lief neben ihm, und auf seinem Gesicht zeichnete sich immer deutlicher Unruhe ab. »Sag mal, Klaw, bist du betrunken?«, fragte er. »Was hast du bloß, Klaw? Was ist denn?«
    Am Feuer wuselte sein Vater herum, der renommierte Professor. »Rote!«, bemerkte Julian. »Du musst schon entschuldigen, Klaw, das Mädchen fühlt sich nicht gut, die Sache ist nämlich die …«
    Die junge Frau saß da, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie drehte den Kopf weg, wand sich auf dem Klappstuhl aus Segeltuch und zog das Knie in den ausgeblichenen Jeans zum Kinn. Er trat an sie heran und blieb eine Sekunde lang lauschend neben ihr stehen. In der Ferne verhallten ein zartes Wiehern und ein hoffnungsloses Glockengeläut, ohne jedoch gänzlich zu verstummen.
    Dann ließ er sich aufs Knie nieder.
    Die elegante graue Hose scherte ihn nicht im Mindesten. Ohne auf Vater und Sohn zu achten, die voller Unglauben wie gebannt dastanden, verblüfft und ein wenig beleidigt. Er ließ sich vor ihr aufs Knie nieder, löste ihre Finger von dem verweinten Gesicht und schmiegte sein Gesicht in ihre verdreckten, nach Rauch riechenden Hände.
    »Im Grunde hat sich wirklich nichts verändert«, sagte die Frau kaum hörbar. »Die Welt hat sich nicht verändert, und wir sind auch immer noch die Alten …«
    »Nein.«
    »Doch! Und jetzt … wiederholt sich alles. Wir werden wieder in den Kreis … hineingezogen … hineingeschubst. In diese Spirale. In den Trichter. Dorthin …«
    »Sieh mich an«, bat er flüsternd.
    Sie senkte den Blick. Krampfhaft zog sie den salzigen Rotz hoch.
    »Sieh mich an. Bitte, sieh mich an.«
    Entschlossen schluckte sie den Speichel hinunter. Sie sah auf, blickte ihn mit den geröteten, gepeinigten Augen einer unglücklichen Füchsin an.
    Er lächelte. Vorsichtig, nur mit den Augen und den Mundwinkeln.
    »Und du behauptest, die Welt hätte sich nicht verändert?«
    Kein Laut ließ sich vernehmen. Eine undurchdringliche, glasklare Haube schirmte sie ab, trennte sie von der Welt, vom Knistern der Zweige im Feuer, von den erstaunten Stimmen von Vater und Sohn und auch vom fernen Gesang der Frösche.
    »Gänse«, hauchte sie.
    »Was?«
    »Gänse …«
    Er drehte sich um.
    Vom See her, der hinter Dickicht versteckt auf dem Nachbargrundstück lag, stolzierte eine Schar wolkenweißer, unerschrockener Gänse über die Wiese.

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