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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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müssen.
    Also setzte er sich wieder hin. Seine Finger umklammerten den Griff eines spitzen, uralten Beils.
    Das Feuer brannte. Eine flinke orangefarbene Zunge schlängelte sich zum Himmel hinauf. Der Mann glaubte, die Welt um ihn herum schwärze sich, sei nicht imstande, dem reinen Feuer ihre Farben entgegenzusetzen. Er meinte zu erblinden, in seinen Augen schienen Feuerkreise zu tanzen, und er glaubte, von der Welt sei nichts geblieben außer diesem Licht, das alles überzog und Kraft spendete.
    Als er die Lider senkte, verwandelte sich das feuergelbe Licht in grellrotes.
    Irgendwo schrie eine Eule, flitzten Mäuse durchs Wurzelwerk. Der Mann blickte auf den roten Kreis, der auf der Innenseite seiner Lider glomm, und sah, wie seine Frau, die gerade mit ihrem jüngsten Sohn schwanger ging, am helllichten Tag mühevoll einen steilen Pfad hochkletterte. Er beobachtete, wie sie behutsam die geschwollenen Beine setzte, wie sie angstvoll nach seiner längst ausgestreckten Hand griff. Sehnsucht, Zärtlichkeit und der Schmerz des Verlusts schnürten ihm die Kehle zu und nahmen ihm den Atem.
    Der metallische Glanz seines bereitliegenden Handbeils. Stille. Stehende Zeit.
    Er öffnete die Augen. Jetzt gaukelte ihm sein Blick die eigenen Kinder vor, die im ängstlichen Gänsemarsch über die erkaltete Glut zogen. Das älteste Kind, dessen Mundwinkel stets nach unten wiesen, ein düsterer und verschlossener Junge, der in den Gesichtszügen und auch im Charakter dem gestrengen Großvater nachschlug. Der mittlere, der seiner Mutter ähnelte, mit dem hellen Haar und den neugierigen, immerzu erstaunt dreinblickenden grünen Augen und mit der Narbe über der Oberlippe. Und der jüngste, gerade anderthalb Jahre alt, der keine Muttermilch gekannt hatte und sich nur mit Mühe auf den dünnen, schwachen Beinchen hielt.
    Der Mann seufzte mehrmals.
    Er sah ins Feuer, und es kam ihm vor, als lugten auch die Berge und der Wald in die Flammen. Als erschauderten auch die Berge und der Wald angesichts seiner Kühnheit. Seit langer Zeit hatte in dieser Gegend niemand mehr ein reines Feuer entfacht, von dem ein einziger Funke ausreichte, die halbe Welt niederzubrennen.
    Der Wind drehte.
    Nach wie vor saß der Mann reglos da, doch seine Augen durchstreiften nun unablässig die Dunkelheit jenseits des Lichtkreises. Vielleicht würde ja auch ein Tschugeist kommen. Vielleicht würde er kommen, um am Feuer zu tanzen, dieser durch und durch widerwärtige Geselle …
    In der fernen Dunkelheit piepte an der Schwelle des niedrigen Hauses das Radio, das Mitternacht verkündete.
    Kaum wahrnehmbar verkrampften sich die Äste der Tannen, die im Licht lagen – der Wind strich dahin. Der Mann spannte sich ebenfalls an, über seinen Rücken rieselte ein eisiger Schauer. Bildete er sich das nur ein? Das Stöhnen … die Geräusche … das Rascheln … die Lichtreflexe … Halluzinierte er oder nicht?
    »Fort mit dir, Hexe«, verlangte er, während er das Beil langsam aufhob.
    Die Frau stand am Rande des Lichtkreises.
    Und er, der schon zum Sprung, zum Schlag bereit war, prallte zurück.
    Denn diejenige, die sich da dem reinen Feuer genähert hatte, war keine Hexe.
    Ihr Körper schimmerte weiß wie Schafskäse, ihr Gesicht wirkte vollkommen blutleer, dieses bis in den letzten Zug hinein vertraute Gesicht. Allein die Augen waren erstaunlich groß, größer als zu Lebzeiten.
    Ihr Name wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen, sie versagten ihm den Dienst. Sacht schüttelte die Frau den Kopf, den seltsamen, gläsernen und dazu traurigen Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Die zarte Haut schien jede Sorte von Licht durchzulassen. Dieses unsagbar geliebte Gesicht.
    »Du … bist gekommen … die Kinder … schlafen.«
    Was sonst hätte er sagen sollen?!
    »Die Kinder … schlafen. Ich werde ihnen sagen … dass du … gekommen bist.«
    Eine Kopfbewegung. Nein.
    Er stand auf, tat einen Schritt auf sie zu, dann noch einen und noch einen. Schon glaubte er, er bräuchte bloß die Hand auszustrecken und seine Finger würden schon den Stoff ihres Hemdes berühren. Dann würde er die Wärme ihres Körpers spüren können, würde durch ihre Haare fahren.
    Und alles würde werden, wie es einst gewesen war.
    Er vergaß das reine Feuer. Er vergaß auch die Hexe. Gedankenverloren streckte er die Hand immer weiter aus, schritt hinein in die Dunkelheit, ihr, unter deren Füßen das Gras nicht knickte, nachfolgend. Auch noch während sie zurückwich, schien sie ihn zu sich

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