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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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brachte sie wie eine Peitsche auf Trab. Sich lautlos durchs undurchdringliche Dunkel bewegend, riss Ywha das Fenster weiter auf, schulterte die Tasche und setzte problemlos übers Fensterbrett.
    Der erste Stock ihres eben noch zukünftigen Zuhauses durfte als niedriger zweiter Stock gelten. Sie blieb im Gras kauern und wartete ab, bis sich der Schmerz in den aufgeschlagenen Beinen legte. In Nasars Zimmer brannte kein Licht mehr, im Unterschied zum Esszimmer. Was ihr ehemaliger Schwiegervater wohl gerade tat? Wenn sie sich vorstellte, was er für ein Gesicht gemacht hatte, als er …
    Dieses Mal verzichtete sie auf die Ohrfeige, denn jemand hätte das Klatschen hören können. Stattdessen kniff sie sich mit aller Kraft in den Schenkel, woraufhin der aufdringliche Gedanke abzog. Wie einfach das war – nur ein hässlicher Fleck von violetter Farbe würde ihr bleiben. Den Nasar glücklicherweise nie zu sehen bekäme!
    Sie sprang auf, um hinters Haus zu schlüpfen, an eine Stelle, an die das Licht der Laterne nicht drang. Ein Ast des Apfelbaums mit den winzigen, noch unreifen Früchten kratzte gotteserbärmlich über die Ziegelmauer. Er warf einen zerhackten, bemitleidenswerten Schatten.
    Mit angehaltenem Atem spähte Ywha vorsichtig um die Ecke. Die Pforte sicherte ein schlichter Haken. Zu dieser späten Stunde trieb sich in ihrer Nähe niemand herum. Trotzdem hämmerte ihr Herz wild und hart.
    Ein Auto. Der grüne Graf stand noch immer da, wo Nasar in seinem Übermut zum Wagenschlag gerannt war.
    Was war das? Das Geräusch eines Motors? Holte ihr Schwiegervater etwa das Auto aus der Garage?
    »Ywha.«
    Das kam aus der Nähe. Hinter ihr. Klebrig lief es ihr den Rücken herunter. Warum hatte sie sein Kommen nicht gespürt?
    »Du brauchst keine Angst zu haben! Ich werde dir nichts tun.«
    »Als ob Sie das nicht schon hätten«, flüsterte sie, ohne sich umzudrehen – obwohl sie sich diese Frechheit auch hätte verkneifen können.
    »Tut mir leid«, versicherte der Großinquisitor der Stadt Wyshna. Offenbar tat er einen Schritt nach vorn, denn Ywha verspürte plötzlich sowohl Würgereiz wie auch Schwäche, allerdings in einer gemilderten, rudimentären Form. Vermutlich konnte er das regulieren.
    »Ich will gehen«, sagte sie, sich mit dem Rücken unter den mageren Zweig des Apfelbaums gegen die Mauer pressend. »Darf ich?«
    »Sicher«, sagte der Inquisitor überraschend umstandslos. »Ich an deiner Stelle würde aber den Morgen abwarten. Das ist doch sonst irgendwie … feige. Es sieht nach Flucht aus, meinst du nicht auch?«
    »Stimmt«, erwiderte sie, die Tasche gegen ihre Brust drückend. »Was würden Sie mit mir machen?«
    »Ich persönlich nichts«, erklärte der Inquisitor mit leicht tadelnder Stimme. »Aber wenn du dich nicht innerhalb einer Woche registrieren lässt, könntest du bestraft werden. In Form von gemeinnütziger Arbeit, die du zusammen mit deinesgleichen – also ebenfalls nicht initiierten, aber mehrheitlich bösen und unsympathischen Hexen – abzuleisten hättest. Weshalb willst du dir das antun?«
    »Das geht Sie nichts an«, blaffte sie, sich der Mauer zuwendend. Die Übelkeit nahm zu. Es fehlte nicht viel, und das Gespräch mit dem Inquisitor würde auf die denkbar unglücklichste Weise enden.
    »Wohin willst du? Mitten in der Nacht? Hier an dieser Chaussee?«
    Sie atmete schnell und tief. Durch den Mund. »Wenn …« Mühevoll stieß sie jedes einzelne Wort aus. »Wenn … Sie mir vorschlagen wollen … mich in die Stadt zu bringen … Das lehne ich ab.«
    »Das ist zwar nicht sehr klug«, konstatierte der Inquisitor, »aber wie du willst. Geh nur.«
    Sie schob die Tasche so auf den Rücken, dass ihr Schatten an ein altes krankes Kamel erinnerte.
    »Ywha.«
    Sie gab dem Wunsch, sich umzudrehen, nicht nach. In ihre herabhängende Hand wurde ein Rechteck aus festem Karton geschoben.
    »Falls es jemals so weit kommen sollte … und es wird so weit kommen … zier dich nicht und ruf mich an. Schließlich kenne ich Nasar schon … da waren Hemd und Hose noch eins. Er liegt mir am Herzen … Seinetwegen würde ich dir helfen. Also mach keine Dummheiten, ja?«
    »Gut«, antwortete sie mit heiserer Stimme.
    Dann trat sie durch die Pforte zu ihrem eben noch zukünftigen Zuhause. Sie lief am Nachbarhaus vorbei. Im ersten Stock brannte hinter den Gardinen ein zartes Nachtlicht, ein Kassettenrekorder summte mit gedämpfter Stimme. Vermutlich etwas über die ewige und treue Liebe.
    Ywha würgte die wieder

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